Hans Theys ist Philosoph und Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Er schrieb und gestaltete fünzig Bücher über zeitgenössische Kunst und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze, Interviews und Rezensionen in Büchern, Katalogen und Zeitschriften. 

Diese Plattform wurde von Evi Bert (M HKA : Centrum Kunstarchieven Vlaanderen) in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Fine Arts Antwerpen (Forschungsgruppe ArchiVolt), M HKA, Antwerpen und Koen Van der Auwera entwickelt. Vielen Dank an Fuchs von Neustadt, Idris Sevenans (HOR) und Marc Ruyters (Hart Magazine).

Ann Veronica Janssens

Ann Veronica Janssens - 2006 - Sculpting Time [EN, interview]
, 6 p.

Skulpturen, von Zeit gemacht
Einige Anmerkungen zum Werk von Ann Veronica Janssens

 

Als ich heute Morgen durch das Buch Une vague belge von Guy Duplat blätterte, stieß ich auf ein Zitat aus meinem Buch The Gliding Gaze (Middelheim, 2003). Die Passage lautet:

„‚Nichts ist schöner als die persönliche Wahrnehmung eines Menschen‘, sagte Ann Veronica Janssens (°1956) einmal zu mir, ‚ich versuche, sie an ihre Grenzen zu führen‘. Weiter oben in diesem Kapitel habe ich bereits ausgeführt, dass Ann Veronica Janssens ganz im Sinne guter japanischer Tradition den Versuch unternimmt, Raum für Menschen zu schaffen. Davon bin ich überzeugt. Ihre Projekte sind das Gegenteil eines narzisstischen, autoritären Monologs, der die Existenz anderer ausschließt. Der Narzisst ist allein. Er ist ein hohles Gefäß ohne Ausgang. Er verschlingt die Welt. Es gibt keinen Übergang von seinem Gehirn zu anderen. Es gibt kein Schweigen. Es gibt keinen Dialog. Der Monolog ist ohrenbetäubend. Lippen existieren nicht. Alles besteht aus Mund. Die Furcht macht benommen. Alles ist hohl. Die Wörter fügen unseren Ohren Schmerzen zu.

  Gleichzeitig spürt man, wie es Ann Veronica Janssens’ Arbeit gelingt, Menschen wieder das Gefühl zu geben, allein sein zu können. Ganz Auge und Ohr, sind sie nur noch durch das dünne Band der Gewohnheit mit ihrem aufgewühlten Verstand verbunden, während ihre Gedanken wie Vorhänge im Wind unruhig hin- und herflattern. Hier ereignet sich viel mehr als ein reizvolles kleines Spiel mit Licht und Farbe. Denn man begreift, dass es niemals mehr als ein kleines Spiel inmitten einer Welt sein wird, deren Zusammenhalt losem, verrutschendem Sand entspricht, auf den wir nette, vereinfachte Bilder projizieren, bis wir selbst vom Winde verweht werden.“

Häufig geht es mir so, dass ich erst anfange, das Werk von Künstlern besser zu verstehen, wenn ich ein Buch über sie gemacht habe. Ein Buch zu machen und nach visuellen Lösungen zu suchen, um das Werk zu präsentieren, regt zu neuen Einsichten an, die meistens aber nicht präzise in Worte gefasst werden können, solange das Buch noch nicht abgeschlossen ist (natürlich auch deshalb, weil zumeist keine Zeit bleibt, das Buch ‚ruhen‘ zu lassen, bevor es in Druck geht).
    Wenn Ann Veronicas Werk aber mehr als ein bloßes Spiel mit Licht ist, was ist es dann genau? Gewiss, es ist ökonomisch, es ist zurückhaltend, es ist politisch, minimalistisch und poetisch. Doch wie sollte das funktionieren? Woher kommt eigentlich diese dunkle und doch wunderbare Poesie?

Als Antwort auf die Frage, was wir mit Sicherheit über die Wirklichkeit wissen, erklärte uns Kant, dass wir die Realität nur erkennen könnten, wenn Zeit und Raum existierten. Ohne Zeit und Raum sind unterschiedliche, aufeinanderfolgende Beobachtungen unmöglich – von Gedanken ganz zu schweigen. Demzufolge sind Zeit und Raum das Einzige, von dem wir mit Sicherheit wissen, dass es existiert. Mir fällt dieses wunderbar einfache, aber sehr wichtige Verdikt immer dann ein, wenn ich zu erklären versuche, woran es liegt, dass mich Ann Veronica Janssens’ Arbeit so fasziniert. Ich muss nicht nur wegen der fremdartigen, traumähnlichen Sinnlichkeit daran denken, die von Kants geduldiger Art, seine Geschichte zu spinnen, ausgeht, sondern auch wegen seiner beharrlichen Unterscheidung zwischen einer beobachtbaren Welt (der sinnlichen Erfahrung) und einer nicht beobachtbaren, essenzielleren Welt.

Ann Veronica Janssens beschreibt ihre skulpturalen Projekte als Studien oder Experimente. Es sind Dinge, die ihr neue Einsichten gewähren und neue Erfahrungen ermöglichen. Genauso sind sie auch im Hinblick auf den Betrachter konzipiert: Es sind Einladungen zu neuen Erfahrungen. Eine Erfahrung erweitert unser bisheriges Wissen oder ermöglicht es uns, scheinbar Bekanntes auf neue Weise zu erleben. Es gibt Augenblicke, in denen wir in die wahre Realität gezogen werden, weil wir ungeschützt und nicht mehr länger mit jener Taubheit und Blindheit geschlagen sind, die aus der Gewohnheit erwachsen. Wir sehen, weil das Denken keine Relevanz mehr hat. Es ist obsolet geworden und gehört der Vergangenheit an, wohingegen sich unsere Sinne und unser Verstand, auf die so viele Eindrücke einstürzen, für diesen Moment in der Gegenwart wiederfinden.
    Weil Raum und Zeit die Voraussetzungen dafür sind, Skulpturen zu fertigen, über sie nachzudenken, sie auszustellen und zu erfahren, sagen Skulpturen auch immer etwas über Raum und Zeit aus. Und im Idealfall wird dies tatsächlich sichtbar oder fassbar. Wir spüren, wie sich die Skulptur auf den umgebenden Raum bezieht, und merken, wie sie uns in einen langsamen, zähflüssigen Zeitstrom zieht. Wenn wir die Herstellung von Skulpturen in materieller Hinsicht betrachten, so klären uns die skulpturalen Projekte darüber auf, wer wir sind und in welchem Verhältnis zu Zeit und Raum wir uns befinden.
    Es braucht Zeit, um diese Kunstwerke wahrnehmen zu können, weil sie häufig nur sichtbar werden, wenn sich das Licht verändert oder Betrachter oder Arbeit ihre Position oder ihre Lage wechseln. Insofern machen uns die Kunstwerke bewusst, welch entscheidende Rolle die Zeit für die Wahrnehmung spielt. In Form, Farbe und Licht eingegossen, fungieren sie als Verkörperungen von Kants Lehrsätzen.
    Es gibt noch weitere Gemeinsamkeiten. Da wir über die Realität herzlich wenig Gewissheit haben, hat Kant uns die Subjektivität, Unberechenbarkeit und Begrenztheit unserer Gedanken vor Augen geführt. Etwas Ähnliches passiert im Werk von Ann Veronica Janssens. Sobald es uns dazu bewogen hat, uns darauf einzulassen und uns ungewöhnlich lange mit ihm zu beschäftigen, vermittelt es uns das Gefühl, dass die Realität so viel Zusammenhalt hat wie loser Sand. Die Arbeiten lassen unsere Projektionen zum Stillstand kommen und gewähren uns einen flüchtigen Blick auf eine darunter liegende dunkle, unerklärliche und zerbröckelnde Realität. Gleichzeitig überkommt uns ein starkes Wohlbefinden, weil wir die Schönheit des Lichtspiels und der von ihm verursachten Projektionen erleben. Wir empfinden Bewunderung für das Leben, weil wir uns seiner anderen, dunklen Seite bewusster geworden sind. Es ist, als liebkosten wir den Tod, der nun seinen Schrecken verloren hat.
    Wenden wir Nietzsches Terminologie auf das Werk an, dann fungieren Ann Veronica Janssens’ skulpturale Projekte wie ein apollinischer Schleier, der den furchtbaren dionysischen Hintergrund durchscheinen lässt. Die Geburt des Wortes macht die Nacht zum ersten Mal sichtbar. Die Geburt der Skulptur teilt die graue Wahrnehmung in Tag und Nacht, in einen wilden, verhexten, ungeheuren und furchtbaren Wirbel oder einen langsamen Übergang von einem projizierten Bild zum nächsten.
    Slavoj Žižek hat beschrieben, wie unsere Welt für ihre abendländischen Bewohner derart virtuell wurde, dass heutzutage das Reale nur noch als Spektakel in Erscheinung treten kann, beispielsweise in Form eines terroristischen Angriffs. „Weil es real ist, das heißt aufgrund seines traumatischen/exzessiven Charakters, sind wir nicht in der Lage, das Reale in unsere Realität (das, was wir dafür halten) zu integrieren, und sehen uns gezwungen, es als albtraumartiges Schreckgespenst zu erfahren.“ Vielleicht hat er recht. Dennoch erkenne ich in Ann Veronica Janssens’ Werk eine andere Möglichkeit. Das Reale kommt hier in Form von Enthaltung, Verlangsamung und geduldiger Beobachtung zum Ausdruck und trotzt den Regeln des banalen Spektakels.

Warum ich dieser Meinung bin, ist eine längere Geschichte, die ich mit Beispielen aus Ann Veronica Janssens’ Œuvre belegen könnte. Die schlüssigste Methode, einen Leser neugierig zu machen, ohne ihn unbedingt überzeugen zu wollen, scheint mir jedoch ein Verweis auf Oliver Sacks’ Bemerkungen zur Migräne in seinem gleichnamigen Buch zu sein. Migräne ist ein Sammelbegriff für viele Erscheinungsformen einer Krankheit, die häufig mit Kopfschmerzen, aber auch mit visuellen Halluzinationen und verwirrenden Sinneseindrücken einhergeht. Die Besonderheit dieser Sinneseindrücke besteht nun meines Erachtens darin, dass sich der Betroffene durchaus darüber im Klaren ist, wie ominös seine Wahrnehmungen und Gedanken sind. Der Verstand scheint durchzudrehen und von der Wirklichkeit losgelöst zu sein. Manchmal sehen die Betroffenen farbige Punkte oder geometrische Muster, manchmal glauben sie, ihnen fehlte ein Körperteil. Oder sie nehmen lediglich einen Ausschnitt der Realität wahr und können sich gar nicht vorstellen, dass der nicht wahrgenommene Bereich jemals existiert hat. Genauso funktionieren die skulpturalen Projekte von Ann Veronica Janssens. Sie hinterfragen, was wir über unsere Wahrnehmung und unsere Gedanken zu wissen glauben. Auf diese Weise beschwören sie Schönheit und Wahrheit aus dem Nichts heraus.
 

Der Traum

Heute Nachmittag fragte ich Ann Veronica Janssens, was sie von dem oben stehenden Text halte. Versucht man nämlich, die tiefergehende Bedeutung eines Werkes zu erfassen, läuft man letztlich immer Gefahr, für andere Aspekte des Werkes, die sich weniger gut in Worte fassen lassen, blind zu werden. In obigem Text versuche ich so genau wie möglich zu erklären, was unter einem skulpturalen Projekt zu verstehen ist, das den Betrachter in die Zeit einbezieht. Zwangsläufig werden dadurch aber andere Aspekte außer Acht gelassen. Ich fragte Ann Veronica Janssens nach diesen Aspekten.

AVJ (während der Lektüre): Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Idee ist, gleich am Anfang zu schreiben, dass meine Arbeit das Gegenteil eines narzisstischen oder egozentrischen Zugangs zur Realität darstellt. Das könnte den Leser vielleicht vom eigentlichen Thema des Textes ablenken.

– Willst du damit sagen, dass dein Werk auch von einer Art Narzissmus herrührt?

AVJ: Ich selbst halte mein Werk für antiautoritär, aber glaubst du, dass das irgendjemanden wirklich interessiert?

– Das kann ich nicht garantieren.

AVJ (lacht): Du schreibst irgendwo, dass mein Werk – weil es erst über einen längeren Zeitraum sichtbar wird – den Betrachter in die „reale Zeit“ zieht, aber ist das wirklich der Fall? Gibt es überhaupt so etwas wie reale Zeit? Mir scheint, meine Arbeit suggeriert, dass Zeit gleichzeitig elastisch, unbegreiflich und geschmeidig sein kann. Das Herz schlägt schneller, oder es stockt einem der Atem. Die Zeit verlangsamt sich, und man spürt das Schweigen eines Augenblicks … Die Idee einer realen Zeit wirkt auf mich fremd.

– Du hast mir erzählt, dass du anlässlich der Einladung zur Biennale in Lyon 2005 ausdrücklich gebeten wurdest, einen Raum mit Nebel zu füllen. Der Titel der Ausstellung lautete ‚L’expérience de la durée’ („Die Erfahrung der Dauer“). Was für eine Absicht steckte dahinter?

AVJ: Den Veranstaltern ging es eigentlich nur um die Tatsache, dass man sich für die Betrachtung von Kunst Zeit lassen soll. Sie wollten, dass die Besucher, sobald sie am Museum ankommen, erst mal in einer meiner Nebel-Skulpturen landen. Wenn man nämlich in einen solchen Raum kommt, ist das Sehvermögen eingeschränkt, und man hat keine Orientierungspunkte. Man beginnt also, sich langsamer und vorsichtiger zu bewegen. Das passiert nahezu automatisch, ohne dass man darüber nachdenkt.

– Der Körper übernimmt also das Denken und wird langsamer.

AVJ: Ja. Das Zeitgefühl verlangsamt sich, weil man keine bestimmten Punkte im Raum und keine Entfernungen erkennen kann. Etwas Ähnliches passiert bei meiner Projektion Corps rond („Runder Körper“). Sie rotiert sehr langsam um ihre eigene Achse. Hin und wieder aber hört diese Drehbewegung auf, so dass sich kurzzeitig ein Schwindelgefühl einstellt …

    Weiter unten im Text schreibst du über die „wahre Realität“ („la réalité vraie“). Im Französischen kann man das nicht sagen. Und ich verstehe nicht, was du damit meinst.

– Ich meine damit, dass unsere Sehgewohnheiten uns davon abhalten, Dinge richtig wahrzunehmen. Wir erkennen sie, ohne sie genau zu betrachten und zu erfahren. Wir schützen uns vor den ständig wechselnden Eindrücken unserer Umgebung. Infolgedessen leben wir eigentlich in einer ‚unwirklichen‘ Welt (einem Abziehbild von Welt oder einer Denkweise), die sich je nach geistiger Beweglichkeit mehr oder weniger den Änderungen des Umfelds anpasst. Bei einem Egozentriker ersetzt diese unwirkliche Projektion – unwirklich deshalb, weil sie aus dem Fehlen innerer Stabilität resultiert und sich aus Gewohnheiten speist – fast die ganze Welt. Nur ein schmerzlicher Verlust kann solche Leute manchmal wieder in die ‚Realität‘ zurückzwingen – in eine Welt, in der einem die Zeit unwiederbringlich entgleitet, in der alles einem ständigen Entstehungsprozess unterliegt und schließlich untergeht. Meiner Ansicht nach gelingt es deinem Werk, Menschen in diese Realität zu ziehen, in eine solche Erfahrung von stetem Wachstum (Bewegung, Schönheit und Vergänglichkeit).

AVJ: Ja, das schreibst du in dem Abschnitt über Nietzsche. Ich kann nicht behaupten, Nietzsche zu verstehen, weil ich noch nie etwas von ihm gelesen habe. Aber ich finde diesen Abschnitt wirklich schön.

– Deine Arbeit ist fraglos eine Erweiterung deiner eigenen Realitätserfahrung, was sie jedoch nicht egozentrisch macht.

AVJ: Aber es stimmt, dass meine Arbeit den Menschen das Gefühl vermittelt, allein zu sein, wie du schreibst. Deshalb halte ich mein Werk für weniger altruistisch und bescheiden, als du es verstehst.

– Du gibst den Menschen zwar das Gefühl, allein zu sein, aber wiederum in einer Welt, die du eröffnet hast. Das Bewusstsein für die vergehende Zeit verleiht dem gegenwärtigen Augenblick einen neuen und zusätzlichen Wert.

Wenn der Erzähler in Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit die kaum wahrnehmbare Erscheinung des Schattens einer schmiedeeisernen Balustrade als Ankündigung für das zarte Durchbrechen der Sonne beschreibt (die ihrerseits einen wunderbaren Tag ankündigt, der einen Ausflug in den Park und ein Treffen mit der entzückenden Gilberte verheißt), so erfährt man diese Achtung vor dem kaum Wahrnehmbaren als erlösenden Einbruch in eine eintönige, von Gewohnheiten dominierte Welt, in der nichts mehr möglich ist, nicht einmal ein Spaziergang im Park oder ein Treffen mit seiner jungendlichen Liebsten.

    Vor ein paar Jahren hast du mir gesagt, dass du dein Auto als deine Werkstatt betrachtest, weil es dir erlaubt, sich ständig bewegende Bilder zu beobachten. Der belgische Künstler Michel François hat mir einmal davon erzählt, wie er neben dir im Auto saß und nach einer Weile bemerkte, dass du mehrere Minuten lang in einem Kreisverkehr herumgefahren warst. Gestern erzählte mir Ida De Vos, dass du schon im Laden von dem kleinen Hologramm auf der Karte für dein Mobiltelefon fasziniert warst und dich augenblicklich daran gemacht hast, ein Multiple für Brian Butler zu entwerfen. Auf die eine oder andere Weise schaffst du es, dich selbst zu ‚dezentralisieren‘ und dich dabei so zu konzentrieren, dass dein Blick von der vorhersehbaren Wirklichkeit abschweift und plötzlich einen seltsamen Ankerplatz findet, an dem die Zeit stillsteht und die Realität mit einer Art Bollwerk umgeben wird, wie obskur oder unbegreiflich es auch immer aussehen mag. Aber dir kommt das vor, als würdest du in einen Traum entschwinden?

AVJ: Ja, manchmal.

– Deswegen habe ich auch oft den Eindruck, dass dein Werk dem von Guillaume Bijl ähnelt. Bijl fing eines Tages damit an, seine Installationen in abgedunkelten Räumen zu zeigen, so als wollte er tatsächlich Bilder eines Traums rekonstruieren, die kurzzeitig in einer dunklen Umgebung aufflackern. Das ist aus meiner Sicht auch der Grund, warum er so viele ‚Compositions trouvées‘ (‚gefundene Kompositionen‘) macht.

AVJ: Diese Arbeiten sind viel subtiler, als die meisten Leute glauben.

– Als ich dich 2004 zu der Ausstellung One by One in Beersel eingeladen habe, hast du eine andere Serie skulpturaler Projekte gezeigt, die in einer Art Laboratorium gruppiert wurde. Eine der Arbeiten war eine Lampe, die einen grünen Lichtstrahl auf eine weiße Wand warf. Was dich dabei interessierte, war der nicht existente Ort, an dem das grüne Licht komplett verschwunden war und die Wand nicht mehr beleuchtet wurde.

    Wenn Guillaume Bijl durch die Stadt läuft, wird er von den vielen ‚Bühnen und Regieanweisungen‘, die ein bestimmtes Verhalten vorschreiben, schier erschlagen. Hier muss man warten, dort kann man sich die Haare schneiden lassen, wieder anderswo kann man einen Spiegel kaufen … Wenn man es zulässt, dass die Realität dieser ‚Compositions trouvées‘ einen völlig mit Beschlag belegt, dann stellt man fest, dass weniger die beobachteten Bühnen und deren Ausstattung unbewusst Eindruck auf Guillaume Bijl machen als vielmehr deren Ränder: die Orte nämlich, an denen sie zu blinden Flecken werden, zur Nicht-Ausstattung, zu farblosen Zwischenräumen. Wo und wie stoßen diese Dekorationen aneinander? Und was ist das für ein Schwarzlicht, das dort durch diese Ritzen kommt? Ich denke, dass diese Faszination durch die Randbereiche der Dekoration in den ‚Compositions trouvées‘ anschaulich wird, in denen Gegenstände aus unterschiedlichen Welten – eigentlich kleine Mini-Dekorationen – in einer Art Stilkollision aufeinandertreffen, was deren Ecken umso deutlicher sichtbar werden lässt. Die Welt – oder zumindest unsere Art, sie zu betrachten, zu gestalten, zu entwerfen oder auszustatten – offenbart sich als Collage, deren Risse den Zugang zu einer darunter liegenden, ungeformten Welt bilden.

AVJ: Ich verstehe, was du meinst (lacht).
 

Montagne de Miel, 28. Oktober 2006