Hans Theys ist Philosoph und Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Er schrieb und gestaltete fünzig Bücher über zeitgenössische Kunst und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze, Interviews und Rezensionen in Büchern, Katalogen und Zeitschriften. 

Diese Plattform wurde von Evi Bert (M HKA : Centrum Kunstarchieven Vlaanderen) in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Fine Arts Antwerpen (Forschungsgruppe ArchiVolt), M HKA, Antwerpen und Koen Van der Auwera entwickelt. Vielen Dank an Fuchs von Neustadt, Idris Sevenans (HOR) und Marc Ruyters (Hart Magazine).

Berlinde De Bruyckere

Berlinde De Bruyckere - 2008 - À propos de doute et d’ouverture, de Lucas Cranach l’Ancien et des couleurs rouge et vert [FR, interview], 2008
, 8 p.




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Hans Theys


Über Zweifel und Offenheit, Lucas Cranach den Älteren und die Farben Rot und Grün
Ein Gespräch mit Berlinde De Bruyckere

- Einige der ersten Bilder, die du als Kind gesehen hast, waren Reproduktionen von Gemälden von Lucas Cranach dem Älteren. Du hast gerade eine Ausstellung mit Werken von ihm besucht.

Berlinde De Bruyckere: Etwas, das mich in der Ausstellung betroffen gemacht hat, ist, dass Cranach genau wie ich bestimmte Themen so oft behandelt, so dass man sich nach der Grenze bei der Ausführung eines Themas fragt, oder umgekehrt, wenn man für dasselbe Thema andauernd verschiedene Materialien und Formen erkennt. Einen großen Teil seiner Bilder finde ich auffallend schlecht gemalt, vor allem die Porträts. Bei einigen Porträts fühlt man gut, dass er für die Porträtierten Bewunderung hegt. Das sind entzückend anzuschauende Werke. Aber oft scheint er nur Aufträge zu erfüllen…

Ich fühle mich vor allem sehr verwandt mit der Art, wie er mit Körperlichkeit umgeht, wie er sinnliche Körper gebraucht als Bild für den geistigen Leib. Da war ein Gemälde von einer Pietá mit einer verschleierten Maria zu sehen. Ihr ganzes Gesicht, aber auch die Art, wie sie ihre Hände um den Leichnam ihres Sohnes legt, erzählt uns etwas über den Schmerz, den sie fühlt. Man weiß, dass Christus tot ist, aber durch die Art, wie sie ihn in den Armen hält, scheint es, als ob er noch nicht tot sei. Das Gesicht zusammen mit den Gebärden von Christus vermitteln im Bild einen tiefen Eindruck. Seine Hände sind verkrampft, als ob sie das letzte Leben noch festhalten wollen, aber man fühlt, dass es gerade vergangen ist. Am Rand des Bildes liegt eine Krone, sehr schön, womit auf das Loslassen hingewiesen wird, auf das Gefühl, dass es genug gewesen ist. Ich würde gern selbst ein Werk schaffen, ausgehend von einer Dornenkrone, dem man etwas wie Loslassen ablesen kann. Ich finde das ein sehr beeindruckendes Gemälde: wie der Leib ins Bild gesetzt ist, so dass die Füße durch den Bildrand überschnitten werden, wie die Hand in der Ecke positioniert ist.

- Die Beine lassen ein wenig an deine Skulpturen denken. Ich sah in deinem Studio ein Foto von dem Mann liegen, der für die Figur posiert hat in der Haltung des „Denkers“ und zu meiner großen Verwunderung sah ich, dass seine Beine in Wirklichkeit aussehen wie die Beine der Figur. Sein Bein wird auf eine seltsame Weise schmal, beinah skulptural. Und hier hat man das auch: eine Art eingefallenes Bein.

De Bruyckere: Wie ich schon sagte, fühle ich mich ziemlich verwandt mit Cranach in der Art, wie er den Leib verformt. Ich habe nie nach seinem Werk gezeichnet (vielmehr nach Antonella da Messina), aber seine Körper haben mich immer fasziniert wegen ihrer Art, wie sie nach innen eingezogen sind. Ich könnte niemals nach einem Werk von Rubens zeichnen, der das Leibliche und die Fülle darstellt, weil es mir vor allem um das Inwendige geht. Das Verkrampfte, das man hier fühlt, kommt durch die Eindellung im Bein. Ich würde dieselbe Delle formen, wenn ich so eine Figur machen würde…Aber wenn ich das zusammenfassen soll, würde ich sagen, dass ich vor allem betroffen bin von seinen Themen, den existentiellen Fragen, die ich in meinem Werk auch stelle und die unendliche Male gestellt und beantwortet und nicht beantwortet und aufs Neue gestellt worden sind. Darin sind wir verwandt, denke ich.

- Vorhin hast du über den mentalen Leib gesprochen, was meinst du damit?

De Bruyckere: Wenn ich seine Bilder betrachte, dann erfahre ich das Leibliche als sein Mittel um darauf hinzuweisen, was den Figuren vor allem auf der Seele liegt oder womit sie beschäftigt sind: ihre Ängste, ihre Leidenschaften, ihre Zweifel… Es geht immer um die geistigen Zustände der Menschen, die durch den sichtbaren Leib ans Licht kommen.

- Eben sprachst du davon, dass du eine Arbeit vorhast, der das Bild der abgelegten Dornenkrone zugrunde liegt. In einem früheren Gespräch hast du mir erzählt, dass du gerade eine Arbeit von einem abgeschnittenen Kopf machen wolltest.

De Bruyckere: Vielleicht ist eine Krone ein besserer Ausgangspunkt, weil der Kopf dann damit auch assoziiert wird, aber dann durch seine Abwesenheit. Ich hatte sowieso vor, den Kopf auf eine abstrakte Weise zu behandeln, doch ich hatte noch keine Form gefunden.

- Nach unserem Gespräch habe ich im Genter Museum für Schöne Künste einen großen Kopf von Rodin gesehen, bei dem der Hals in den Sockel übergeht.

De Bruyckere: Das lässt mich an den Film Salomé von Carlos Saura denken. In einem bestimmten Moment haben sie den Kopf von Johannes sozusagen abgeschlagen, aber weil sie in der Szene nicht so einfach mit einem abgeschlagenen Kopf rumlaufen konnten, haben sie Johannes in einer Säule versteckt, die sie mit dem heraus ragenden Kopf über die Szene rollten. Das fand ich ein phantastisches Bild. Ähnlich Salome in diesem Gemälde ihr Kleid wird beinah zu einer Säule. Ihr Blick ist auch phantastisch. Man fühlt eine Art unbefriedigtes Verlangen. Und all die anderen Frauen sehen mit zu. Jede hat eine andere Perspektive. Ob es nun um Judith oder Salome geht, immer spürt man eine Lust, die sie zu dem Entschluss geführt hat, den Johannes zu enthaupten. Das finde ich das stärkste an Cranach. Die auf ihren Schmuck oder die Feinheit ihres Kleides verwendete Sorgsamkeit betonen, dass eine schöne, gefühlvolle Frau zu einer so grausamen Tat imstande sein kann. Ich finde, dass Cranach ein Meister darin ist, Personen zu schaffen, denen man bestimmte Taten nicht zutraut. Er zeigt immer spannende Gegensätze. Man sieht das auch an dieser Hand, die ein Ohr berührt. Die Hand selbst berührt das Ohr nicht, weil sie in einem Handschuh gefangen ist, so fein dieser Handschuh auch sein mag.

- Der Hund hat auch eine eigene Perspektive...

De Bruyckere: Ja, der leckt das Blut auf. Ich habe das immer als eindrücklichen Moment empfunden: das Abschlagen des Kopfes und das herumspritzende Blut. Wenn ich damals als Kind beim Blättern durch die Artis-Historia Bücher auf die abgeschlagenen, rollenden und spritzenden Köpfe stieß, fand ich das sehr speziell. Ich war davon immer fasziniert.

- Was ist deine Lieblingsfarbe?

De Bruyckere: Grün, weil es in der Natur so viele verschiedene Töne davon gibt. Für eine Ausstellung in Speelhoven habe ich einmal einen riesigen Blumenteppich gemacht. Ich hatte eine große offene Fläche gefunden und war begeistert von all den verschiedenen Arten Grün, die man dort sehen konnte. Als Kind kam ich häufig in Gärtnereien, weil meine Eltern von Blumenzüchtern abstammen. Ich habe Felder mit Begonien immer sehr schön gefunden, mit dem Rot, Gelb, Orange und Rosa. Und als ich da auf einmal auf dem überwältigenden, grünen Fleck stand, wollte ich dem etwas gegenüber stellen, das genauso stark war. Ich habe einen irakischen Teppich als Ausgangspunkt genommen und einen Blumenteppich entworfen mit dutzenden Tönen von Rot zu Rosa. Dieser Eindruck war sehr intensiv. Die Blumen bewegten sich sacht. Es sah so fremd und intensiv aus, weil dort niemand war. Normalerweise sieht man Blumenteppiche mitten in der Stadt. Es war etwas besonderes, so einen Teppich am Ende einer Sackgasse in Aarschot vorzufinden. Ich hatte auch große Leitern von der Obstzucht aufstellen lassen, so dass die Menschen ein größeres Stück des Teppichs sehen konnten. Am schönsten fand ich den Teppich als er verging. Nach der Ausstellung waren alle Blumen vertrocknet und das Gras hatte wieder zu sprießen begonnen. Das war prachtvoll. Ich fühlte, dass man immer versuchen kann etwas in der Natur zu machen, aber dass es immer temporär sein wird.

- Deine Assistentinnen Annelies und Nele haben mir erzählt, dass du in den Kadavern aufgeschnittener Pferde eine Schönheit sehen kannst, die sie anfangs nur mit Mühe entdecken konnten. Ich frage mich, ob das mit einer Art Fähigkeit zu tun hat, auf so ein aufgeschnittenes Pferd zu schauen als ob es das Modell einer Landschaft wäre. Ist das so? Entdeckst du eine Art rote Landschaft in so einem Pferd, eine Landschaft mit vielen verschiedenen Nuancierungen und roten Tönen?

De Bruyckere: Ja. Ich habe es noch nicht so betrachtet, aber eine Erfahrung, die ich vor kurzem in der Schule für Veterinäre gemacht habe, stimmt völlig damit überein, was du erzählt hast. Man hatte mir zum Abformen ein mitten durchgeschnittenes Pferd angeboten, aber ich hatte nur begonnen, Detailfotos zu machen von den Eingeweiden, den Rippen und seinem Muskelgewebe. Darin sieht man viele Farben. Während ich fotografierte, erinnerte ich mich an mittelalterliche Gemälde, in denen auf eine besondere Weise mit Blut und Rot umgegangen wird…Wenn du mich nach meiner Lieblingsfarbe fragst, antworte ich „Grün“, weil das die Farbe ist, die mich am meisten zur Ruhe bringt. Ich beobachte gerade bei Bäumen die Art und Weise, wie das Licht alle Blätter unterschiedlich färbt. Ich habe noch nie so über Rot nachgedacht.

- Was ich zu schön daran finde, was Künstler tun, ist, dass sie unbewusst immer wieder auf bestimmte Bilder zurück zu kommen scheinen. Als ich vor zwei Monaten vorschlug, für ein Buch über dein Werk einen grünen Umschlag zu machen, hast du zunächst geantwortet, dass es in deinem Werk kein Grün gibt. Allerdings kommt sehr viel Grün in deinen Wachsskulpturen vor. Nun erzählst du mir, dass du Rot noch nie auf vielfältige Weise wahrgenommen hast, während du mir vor fünf Minuten erzählt hast, dass du einen riesigen roten Blumenteppich gemacht hast. Ich stelle mir dann vor, dass du unbewusst nach Grün suchst, weil du von dem Rot weg willst. Aber zugleich scheint es, als ob du als Kind in der Schlachterei gelernt hast, in den Kadavern Landschaften zu sehen, um sie ertragen zu können.

De Bruyckere: Ich denke, dass man als Künstler nicht versuchen sollte, alles zu begreifen. Wenn ich Lösungen finden würde, die ich in Worten ausdrücken kann, dann brauchte ich keine Bilder mehr zu machen. Deshalb versuche ich normalerweise eigentlich auch so wenig als möglich über mein Werk zu reden… Ich bin ein Bilderfresser und ein Bilderstürmer. Ein Bild entsteht aus dem anderen. Das ist ein Prozess, der sich langsam vollziehen muss.

- In seiner Einleitung zu den Fragmenten der Tagebücher von Werner Herzog über dessen Reise zu Fuß nach Paris berichtet Wieringa, dass Herzog in seinem Denken ausgeht von der Hoffnungslosigkeit Filme zu machen, von der Hoffnungslosigkeit ein Kunstwerk zu machen, und dass der Zweifel seinem Schaffen inhärent ist. Fühlst du dich damit verwandt?

De Bruyckere: Ganz stark, deshalb habe ich aus dem Buch auch Teile ausgewählt, die in einem neuen Buch über mein Werk publiziert werden. Ich könnte nicht ohne den Zweifel arbeiten, auch wenn es manchmal sehr mühsam ist, damit umzugehen. Zweifel ist dem Kunstmachen eigen, denke ich... Aus einer Gewissheit heraus hat man eigentlich nichts zu sagen. Man wird getrieben von einem Verlangen nach etwas, was vielleicht unerreichbar sein mag. Wie Herzog ein Schiff mit Manneskraft über einen echten Berg zieht, anstatt ein täuschende Aufnahme zu machen irgendwo im Studio. Ich begreife sehr gut, warum er das nicht verfälschen will. Aus dieser Schufterei und Quälerei entsteht schließlich etwas ganz anderes, sicher auch dann, wenn man mit anderen Menschen zusammen arbeitet. Gerade aus diesem Erleben und Erfahren hat man, denk ich, als Künstler etwas zu sagen Es ist viel bequemer, in einem Filmstudio etwas zu inszenieren als tatsächlich Menschen dazu zu bringen, gemeinsam an eine Idee zu glauben und dafür begeistert zu sein. Und das ist es, was ich auch selbst sehr deutlich erfahre in der Zusammenarbeit mit den Menschen um mich herum: dass ich sie verrückt genug machen muss, damit wir uns immer wieder für dasselbe in Bewegung setzen, jeder auf eine andere Weise, denn wir sind alle so sehr unterschiedlich. Dennoch ist da die Skulptur, die man gemeinsam machen will und wo man hin will…Das großartige ist, dass da unterschiedliche Menschen sind, die etwas von sich selbst in den Bildern wieder finden. Das ist das starke an einem guten Bild, denke ich: dass es nicht zurückfällt auf eine Bedeutung oder auf einen Inhalt, sondern dass es so vielseitig ist, dass man von dort aus Möglichkeiten in alle Richtungen hat und dass man sich darin verirrt und verliert.

- Dass es offen bleibt?

De Bruyckere: Ja. Denn wenn man ein Bild oder ein Kunstwerk benennen kann, dann erstickt man es, dann schließt man es ab und dann wird nicht mehr davon gesprochen. Man muss ein Bild loslassen können. Das kann ich gut…Ich kann das Werk nur machen, es eine Weile bei mir behalten, um es aufzuladen und dann ab und zu in einem anderen Kontext auszustellen. Man muss ertragen können, dass das Werk auf vielerlei Weise gelesen oder interpretiert wird… Wenn ein Bild lediglich zurückfällt auf eine Bedeutung, die der Künstler hinein gelegt hat, vergisst man es gleich, nachdem man es gesehen hat. Gute Bilder lassen einen nicht los und lassen immer Fragen offen.

- Der Künstler gibt eigentlich dem Zweifel Form, vielleicht aus Abscheu vor den sogenannten Gewissheiten.

De Bruyckere: Das denke ich schon. Früher hatte man die Sicherheiten des Glaubens und der Tradition, heutzutage suchen wir immer nach Regeln, Zwecken oder Normen, um in dieser Welt aufrecht zu bleiben, wobei immer Zweifel bleiben, ob das auch die richtigen sind.

- Tarkowski nennt es „einen unerschöpflichen Genuss, zu erleben, dass ein Bild unergründlich ist und seine wahre Bedeutung nicht auflöst“.

De Bruyckere: Darum kehren wir auch immer wieder zurück zu schönen Werken. Sobald wir denken würden, dass wir sie verstanden haben, haben wir kein Verlangen mehr sie wieder zu sehen, sie immer bei uns zu haben oder in unserer Erinnerung zu bewahren.

- Erinnerst du dich noch, von welchem Kunstwerk du zum erstenmal in dieser Weise berührt worden  bist?

De Bruyckere: Ich kann schwerlich ein Kunstwerk nennen, weil ich meinen ersten Kontakt mit Kunst durch die Bücher von Artis-Historia hatte. Ich habe als Kind keine Kunstwerke im Original gesehen.

- Deine Eltern sind mit dir nicht in Museen gegangen?

De Bruyckere: Nein. Bei uns zu Hause hatte man keinen Sinn für Kunst. Es wurde auch nicht darüber gesprochen. Die Bücher von Artis-Historia wurden auch nicht von meinen Eltern zusammengebracht. Sie sammelten wohl die Punkte, aber es war ein Kunde, glaube ich, der die Bildchen säuberlich in die Bücher klebte und mir die Bücher verschaffte. Ich erinnere mich noch sehr gut, wie ich als fünf oder sechs Jahre altes Kind beeindruckt war von den Abbildungen in den Büchern. Ich war ergriffen von der Kraft der Gemälde, obwohl ich sie nie im Original gesehen hab.

Meine erste physische Begegnung mit Kunst fand statt, als ich in der Grundschule war und wir die Ausstellung von Gustaaf Van de Woestijne im Genter Museum für Schöne Künste besuchten. Der Lehrer ließ uns frei herumlaufen. Die Kreuztragung von Hieronymus Bosch machte einen großen Eindruck auf mich. Sowohl Christus mit dem Kreuz als auch die starrenden monströsen Figuren um ihn herum haben mir Angst gemacht.

Nachher war ich lange Zeit viel mehr von Poesie und Büchern fasziniert als von bildender Kunst, weil ich im Internat die Bibliothek benutzen durfte, wo ich auf große Zeitschriftenstapel stieß. Dort gab es kein einziges Buch über Kunst.

- Wie hast du das Internat erlebt?

De Bruyckere: Ich habe teils gute, teils schlechte Erinnerungen daran. Aber ich habe keinen Vergleich. Ich war im Internat von meinem fünften Lebensjahr an. Ich hatte keine Geschwister und in dieser Hinsicht war es gut, dass ich im Internat mit einer Gruppe von Freundinnen zusammen lebte. Andererseits hat diese Erfahrung viel in meinem Leben geprägt. Dadurch, dass ich als Fünfjährige plötzlich mit einer so großen Schule zu tun bekam, mit mühsamen Aufträgen und Nonnen, wo ich mich eigentlich nicht richtig wohl fühlen konnte, habe ich das Gefühl, dass ich immer alles allein tun muss… Jede Entscheidung, die ich getroffen habe, habe ich allein treffen müssen. Es gab niemanden, an den ich mich hätte wenden können, um mich zu vergewissern: mache ich das nun richtig oder mache ich das falsch? Als Kind habe ich jemanden vermisst, der hinter mir steht, der mir Aufmerksamkeit schenkt und mithilft, Fragen zu lösen und Entscheidungen zu treffen. Andererseits denke ich, dass ich vielleicht deshalb Künstlerin geworden bin, weil ich die Gewohnheit angenommen habe, alles selbst zu befragen. In dieser Hinsicht finde ich es nicht schade, dass ich meine Kindheit dort verbracht habe.

Ich war keine Superschülerin. Ich verbrachte viel Zeit mit einer Gruppe toller Freundinnen, die es durch ihre Phantasie auf eine spannende Weise möglich machten, im Kopf der Welt der Nonnen zu entkommen. Zeichnen wurde meine Weise mich auszudrücken und einen eigenen Platz in der Welt einzunehmen, die eine große Frage und ein offenes Loch war.

Die Notwendigkeit, mich in Bildern auszudrücken, ist bestimmt eine Folge des Umstandes, dass ich als Kind in einem Internat aufgewachsen bin. Ich bin dort von meinem fünften bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr gewesen, das ist eine lange Zeit im Leben eines Kindes… Doch ist es nicht so, dass ich als Mädchen von fünf Jahren immer bange und ängstlich und traurig gewesen bin, weil ich alles allein tun musste. Zuweilen gab es mir ein gutes Gefühl, sich allein die Dinge betrachten zu können. Es gab sicher Momente, in denen ich dachte: das habe nun eben nur ich allein erlebt und ich muss es mit niemand teilen. Gefühlen, die ich nicht teilen musste, habe ich viel Bedeutung beigemessen. Und das will ich meinen Kindern auch gönnen, ich will sie nicht zu viel behüten und versuchen, in ihre Seelen zu schauen und zu wissen, was sie erleben. Ich denke, dass ich, indem ich selbst ganz offen in die Welt schaue, ihnen helfen kann, sehr aufgeschlossen zu sein und etwas an die Welt zurück zu geben, aber meine Aufgabe als Mutter reicht nicht weiter, denke ich.

- Du erzählst, dass du als Kind angefangen hast zu zeichnen und dir eine eigene Welt geschaffen hast. Wann hast du begonnen zu begreifen, dass du Kunstwerke machen willst?

De Bruyckere: Das weiß ich nicht mehr. Als ich zwölf war, habe ich beschlossen, auf eine Kunsthochschule zu gehen. Meine Eltern haben mir diese Wahl überlassen. Darüber bin ich heute noch sehr froh. In einem bestimmten Moment in meinem Leben habe ich begonnen mich zu fragen, ob ich nicht besser erst an eine übliche Oberschule hätte gehen sollen, weil man an der Akademie nur Techniken lernt, aber keine Sensibilität für Poesie, Literatur, Sprachen oder Kunstgeschichte entwickelt, aber ich denke, dass ich das mittlerweile alles aufgeholt habe.

- Die Malerei von Bosch hat dir Angst gemacht. Erinnerst du dich an das erste Mal, als du ein Kunstwerk gesehen und Trost erfahren hast?

Berlinde De Bruyckere: (Denkt lange nach). Komisch. Ich habe immer die Hoffnung, mit meinem Werk Menschen zu trösten, aber ich kann mich nicht auf Anhieb an ein einziges Bild erinnern, das mir Trost geboten hätte.

- Vielleicht machst du sie deshalb selbst, weil du das Gefühl hast, es gibt sie noch nicht?

De Bruyckere: Vielleicht. Ich glaube, ich finde mehr Trost in Büchern, in Filmen und in Gesprächen mit Freunden und Familienmitgliedern. Mein Mann und meine Kinder geben mir Ruhe und Trost, weil ich mich ohne sie vergaloppieren würde, ich würde nicht aufhören können zu arbeiten.

- Ist es für dich wichtig, dass du mit einem Künstler verheiratet bist?

De Bruyckere: Ja, weil mein Mann, wie kein anderer, die Zweifel versteht. Es gibt Momente, in denen Peter (Buggenhout) kurz in meinem Atelier vorbeischaut und beinah im Vorbeigehen eine Bemerkung macht, die genau trifft. Er kennt den ganzen Prozess, hat alles verfolgt und miterlebt und dann, in dem Moment, in dem es für mich wichtig ist, ein Feedback zu bekommen, kann er sehr scharf die Dinge benennen und den neuralgischen Punkt treffen. Darüber bin ich sehr froh. Er ist auch keiner, der alles auseinandernimmt und aufdröselt und alles wissen will, was mir im Kopf herumgeht, um es in den Griff zu bekommen. Als Künstler muss man einander sicher die Freiheit lassen, einiges an Erlebnissen zu haben und Welten zu entdecken, ohne dass man einander immer alles darüber erzählen muss… Ich denke, das ist in jeder Familie notwendig: es muss Raum sein, man selbst sein zu können.
 

Montagne de Miel, 30. Juni 2008