Hans Theys ist Philosoph und Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Er schrieb und gestaltete fünzig Bücher über zeitgenössische Kunst und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze, Interviews und Rezensionen in Büchern, Katalogen und Zeitschriften. 

Diese Plattform wurde von Evi Bert (M HKA : Centrum Kunstarchieven Vlaanderen) in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Fine Arts Antwerpen (Forschungsgruppe ArchiVolt), M HKA, Antwerpen und Koen Van der Auwera entwickelt. Vielen Dank an Fuchs von Neustadt, Idris Sevenans (HOR) und Marc Ruyters (Hart Magazine).

ESSAYS, INTERVIEWS & REVIEWS

Guillaume Bijl - 1998 - Unterwegs mit Guillaume Bijl ! [DE, essay]
Text , 8 p.




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Hans Theys


Unterwegs mit Guillaume Bijl !
Ein munterer Rundgang durch das Abendland

Einleitung

"Zu meinem Werk sind viele verkehrte Interpretationen veröffentlicht worden, die mich nach wie vor verfolgen", sagt Guillaume Bijl, "zum Beispiel hat man schon häufig geschrieben, ich würde Antikunst machen. Mein Werk ist kritisch. Ich verspotte die Institutionen, unsere Zivilisation, unsere Gewohnheiten, aber weshalb sollte ich mich gegen die Kunst wenden?"
Bijl steht dabei auf, um seinen Argumenten mit eleganten Gesten und den schleppenden Tänzerschritten eines Straßenschlägers noch mehr Kraft zu verleihen. Er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes T-Shirt und eine randlose Brille mit rechteckigen Gläsern. Ab und zu streicht er zwischen Daumen und Hand sein graues, langes Haar zurück. Er steht da wie eine Statue in einer Nische: in einer Türöffnung mit Rundbogen. Ich sitze an einem bescheidenen Küchentisch ein paar Meter von ihm entfernt.
"Und warum denkt man, daß ich Antikunst mache? Wegen meines Projektes der Kunstliquidation, für das ich in einem selbstverfaßten Pamphlet verkünde, daß die Galerie oder der Ausstellungsraum, in dem ich gerade ausstellte, bankrott gegangen und von Staats wegen durch eine sogenannte gemeinnützige Einrichtung ersetzt worden sei. Nach ein paar Jahren habe ich den Begleittext weggelassen, weil er der ausgestellten Installation nichts Wesentliches hinzufügte, aber die Leute erinnern sich nach wie vor an den Text, ohne zu begreifen, daß es um eine Liquidation von Staats wegen ging. Eigentlich war das ja gerade als Hommage an die Kunst oder an den denkenden Menschen gemeint."
Bijl tritt aus dem Türrahmen und kommt an den Tisch, um sich eine Camel anzuzünden. Er hat große, feine Hände und lange Fingernägel. Ich verstehe, was er meint, denn als er mir 1989 zum ersten Mal von seinen "Four American Artists" erzählte, einer Wanderausstellung mit Malerei von vier fiktiven Künstlern, dachte ich anfangs auch, daß diese Ausstellungen die Gegenwartskunst parodieren wollten. "Es geht hier nicht um eine Parodie der Kunst", setzt Bijl fort, "sondern um eine Parodie des trendbewußten Umgangs mit Kunst. Außerdem war es für mich auch angenehm, diese Arbeiten machen zu dürfen und auszustellen. Wim Beeren wollte mal eine von ihnen kaufen. Er raste, als er hörte, daß es sich um fiktive Künstler handle. Weshalb? Er hätte besser für denselben Preis die gesamte Installation in ihrem Kontext kaufen sollen, als das eine Bild, das er von vornherein kaufen wollte. Aber an diese Mißverständnisse habe ich mich bereits gewöhnt. 1979 habe ich mit meiner Arbeit begonnen. Das war die Zeit von Cucchi, Chia und Clemente, große, schreiende Malerei. Mein eigenes Werk war völlig unsichtbar. Es war zu realistisch. Zu sehr in eine Situation implantiert. Ich hatte sozusagen keinen Stil. Ich machte Readymades. Als Mark Hostetler von Furkart mir 1984 die Chance gab, auf dem Baseler Kunstmarkt einen Lampenstand zu machen, gingen die anderen Galeristen die Direktorin holen, um mich rausschmeißen zu lassen. Mit die größten Gegner meiner Installation waren die Leute von der Galerie Zwirner, die Werke von Picabia und Duchamp verkauften. So eine Kunstmesse ist doch eigentlich bloß ein großer Handelsmarkt. Ich finde es spaßig, dort dann Lüster dazwischen zu hängen, als hätte ich mich in der Messe geirrt."
Bijl zündet sich eine neue Zigarette an und kneift die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammen. "'Four American Artists' verweist auf das unerschöpfliche Heer von Epigonen, wie es in jedem Zeitalter auftaucht, in diesem Falle am Ende der achtziger Jahre. Sie werden dann von den kleineren Galerien ausgestellt, die die großen Fische nicht zeigen können. Die Arbeit bezieht sich auch auf die Gewohnheit, Künstler, die nichts miteinander zu tun haben, zusammen auszustellen, weil sie aus demselben Land kommen. Man kennt das Phänomen ja: Gruppenausstellungen mit dem Titel 'Six Spanish Painters' oder 'Ten Australian Sculptures'. Mich fasziniert es aber auch, die Schrift richtig auf die Wand und auf das Fenster der Galerie zu kleben, so daß der Dekor funktionierte: 'S Punkt Robert'. Es war merkwürdig, daß der Entwurf oder die Farben von manchen Lampen in meinem Lüstergeschäft indirekt aus der modernen Kunst stammten, aus dem Konstruktivismus, de Stijl, usw., aber es war nicht beabsichtigt, das als Kunstparodie zu benutzen, es ergab sich einfach aus der Form der Lampen, die diese Vorgeschichte in sich tragen.
Ein anderes Mißverständnis über meine Arbeit besteht darin, daß meine 'Compositions Trouvées' nicht so stark wären wie meine großen Installationen. Es stimmt, daß sie keinen situativen Anspruch haben, aber dennoch sind sie stereotype Bilder unserer Gesellschaft. Manchmal sind diese Bilder groß und situativ verarbeitet, manchmal sind sie klein und man kann sie eher als Stilleben oder Skulpturen sehen. Der ästhetische Wert, den ich mit Hilfe einer sonderbaren Alchemie simulieren möchte, wird eigentlich erst im Nachhinein vom Kunstpublikum eingebracht."
 

Beschreibung einiger Arbeiten

Eine wissenschaftliche Ausstellung der Geschichte der Verkehrsmittel mit dem Titel "Der Mensch überwindet Distanzen" besteht aus verschiedenen, mit rot, grün, gelb oder dergleichen schön gefärbten Wänden abgesetzten Ständen. In ihnen ist jeweils ein Fahrzeug oder anderweitig bemerkenswerter Gegenstand ausgestellt wie z.B. ein Boot, eine Kutsche oder ein ausgestopftes Pferd, manchmal lebensgroß, manchmal verkleinert, Modelle in Vitrinen, manchmal auf Photos, und meistenfalls mit den notwendigen Erläuterungen versehen. Die Stände, die mit Palmen aufgeheitert werden müssen, tragen Aufschriften in weißer Klebeschrift: "Eisenbahn", "Straßen und Wege" oder "Automobile".
Auf dem Rasen rund um ein Museum werden Gipsskulpturen, Sockel, Säulen und Vasen ausgestellt wie einem "Gartendekocenter", so daß man die Skulpturen in ihrer natürlichen Umgebung würdigen kann.
In einem Freilichtmuseum wird ein Stück römischer Straße gebaut, als ob sie dort von Archäologen freigelegt worden wäre. Ein Metallgeländer bietet den Besuchern Gelegenheit, auf die Ellenbogen gelehnt über die vergangene Pracht zu sinnieren. Auf dem Rasen neben einem künstlichen See, der an eine moderne, kleinbürgerliche Schlafstadt grenzt, wird aus den obligaten Betonklinkern ein runder Platz angelegt, in der Mitte ein winzig kleiner Teich und an dessen Rand zwei sich nach oben verjüngende, metallene Laternenpfähle mit weißen Lampenkugeln. An anderen Stellen werden ähnliche Plätze angelegt, jeweils mit Laternenpfählen, manchmal mit einer Bank, einem Blumenkübel oder einer modernen Skulptur. Ein Museumssaal mit goldbraunem Parkettboden wird zu einem Schlafsaal einer psychiatrischen Anstalt umgebaut. An den Wänden sind Betten aufgestellt. Auf einem Tischchen steht ein Gummibaum in einem Plastikblumentopf mit Bronzebeschlagimitat, die Wände sind weiß, dort hängt ein Kruzifix, hinter einem weißen Wandschirm lugt eine Zimmerlilie hervor, der Fernseher steht auf einem Fünfzigerjahretischchen mit dünnen Beinchen.
Ein Museumssaal wird in einen Festsaal umgebaut, in dem zwei Reihen gedeckter Tische die Ankunft eines neuen Politikers und seiner Anhänger erwarten. Am Ende des Saales, wo der Politiker das Wort an das Publikum richten wird, hängen eine große, deutsche Fahne und ein Poster mit dem Bildnis des Politikers. Auch stehen dort einige Blumenkübel mit großen Pflanzen. Auf den Wänden werden Slogans angebracht wie "Neue demokratische Partei" und "Die neue Hoffnung".
Ein länglicher Ausstellungsraum wird in einen Schießstand umgebaut. Andere Ausstellungsräume werden in einen Turnsaal umgebaut, ein orientalisches Teppichgeschäft, eine Messe für Wohnwagen ("Caravan Show"), eine Reiseagentur, einen Atombunker, eine Fahrschule, einen Supermarkt, eine Zeichenakademie, ein Geschäft, in dem man Futons und anderes japanisches Zeugs kaufen kann, einen Auktionssaal, ein Antiquariat, ein Geschäft, in dem man formelle Kleidung leihen kann, ein Kuriositätenkabinett, das Sterbezimmers eines Wiener Komponisten oder ein Fernsehstudio mit dem Dekor einer Spielsendung.


Vier Sorten Arbeiten

Guillaume Bijl hat sein œuvre in vier Gruppen unterteilt. Die erste Gruppe von Arbeiten nennt er die "TransformationsInstallationen", die er als "eine Realität in einer Unrealität" umschreibt. Mit dieser "Unrealität" verweist er auf das bereits erwähnte, selbstverfaßtes Pamphlet von 1979, in dem er dem Staat vorschlägt, Kunsträume wegen ihrer "Unfunktionalität" zu schließen und sie in gesellschaftlich nützliche Einrichtungen zu transformieren. Die erste Arbeit in dieser Gruppe war eine Fahrschule. Später folgten ein Fitneßraum, ein Auktionssaal, ein Supermarkt usw. Bijl nennt sie kritische, archäologische Geschichten, die mit einer distanzschaffenden Verfremdung bildlich dargestellt werden.
Die zweite Gruppe von Arbeiten nennt Bijl die "SituationsInstallationen", die er als "eine Unrealität in der Realität" umschreibt. Die SituationsInstallationen sind meistens Eingriffe in die Realität aus Anlaß einer Kunstveranstaltung. Eigentlich treiben sie Spott mit unserer Erwartungshaltung, mit dem, was wir selbstverständlich finden und was nicht. So wurden während der Documenta IX an verschiedenen Stellen in der Stadt ausgestopfte Vögel angebracht. Ein Jahr später wurde an beiden Seiten eines deutsch-niederländischen Grenzpostens ein Schild mit der Aufschrift "FKK verboten" aufgestellt, und in einem Grenzhäuschen Photos von Nudisten aufgehängt. Ein anderer Eingriff war das Aufstellen von Fahrrädern zusammen mit einem Schild "Fahrräder verboten" im Flughafen von Montreal.
Die dritte Gruppe sind die "Tut-mir-leid-Installationen". Es handelt sich um absurde Assemblagen, in denen Bijl "fremdgeht", seine eigene Form betrügt. In einer der ersten "Tut-mir-leid-Installationen" stellte er eine Pferdeattrappe in einen Transporter auf dem Gelände eines Reiterhofes.
Die vierte Gruppe sind die Kompositionen, die fast immer den Titel "Composition Trouvée" tragen. Es handelt sich hier um Rekonstruktionen einer wirklich vorgefunden Struktur von Gegenständen. Es sind aktuelle, archäologische Stilleben, die sich zu den großen Installationen verhalten wie Skizzen zu großen Gemälden.
Wer das Werk von Guillaume Bijl ein bißchen kennt, sieht sofort, daß ein großer Teil seiner Arbeiten eigentlich mehreren dieser Gruppen zugeordnet werden kann. Die SituationsInstallation "Composition Trouvée" von 1991, in der einige dekorative Gartenskulpturen in den Ausläufern eines kitschigen Stadtparks aufgestellt wurden, unterscheidet sich natürlich ausschließlich durch ihren Umfang von einer echten composition trouvée. Die SituationsInstallation "Horizon Systems", in der in einem leerstehenden Raum in einem madrider Einkaufszentrum eine Firma im High-Tech-Stil untergebracht wurde, unterscheidet sich eigentlich von der TransformationsInstallation nur dadurch, daß hier kein musealer Raum umgebaut wurde und die Erwartungshaltung des Zuschauers auf einem anderen Niveau durchbrochen wird. (Das hängt natürlich vom Zuschauer ab. Dem normalen Käufer wird nichts auffallen, außer daß es ein neues Geschäft gibt, aber das wäre ebenso der Fall gewesen, wenn man dort eine Galerie umgebaut hätte.)


Der richtige Ton

Nicht die nahtlose Einordnung dieser Arbeiten in eine der Gruppen ist wichtig, sondern daß wir fühlen, worum es Bijl eigentlich geht. Wer ihn schon einmal bei der Beaufsichtigung der Arbeiten beobachtet hat, weiß wieviel Freude er am Finden der richtigen Materialien hat oder beim Treffen des richtigen Tonfalls. Ich erinnere mich an seine fröhliche Erregung während des Aufbaus des "Documenta Wax Museum", wo trotz Kühlanlage die auf die Fenster brennende Sonne die Wachsfinger der Puppen schmelzen ließ. Es kam für ihn überhaupt nicht in Frage, das Material durch Polyester zu ersetzen, auch blieb dadurch das Risiko bestehen, daß die Finger nochmals schmelzen könnten. Für Guillaume Bijl müssen die Dinge echt sein. Es geht nicht darum, eine Illusion von Echtheit zu kreieren, was die Gegenstände und Materialien betrifft, sondern vielmehr darum, das Illusorische dieser Wirklichkeit fühlbar zu machen. Es ist erstaunlich, wie natürlich uns so viele Sachen erscheinen, obwohl es sich um sorgfältig vorbereitete oder schlicht zusammengesetzte Dekors handelt, in denen sich unsere kargen und absurden Szenarien abzuspielen haben. Hinterher können wir manchmal über gewisse Gewohnheiten lächeln, wie das Tragen von Schlaghosen, doch in dem Moment selbst? Es bedarf einer Art von "Distanz", wie Bijl selbst anmerkt, um diese absurden Dekors durchschauen zu können. Auf einem Photo, auf dem man hoch über den Köpfen der vorbeigehenden Menschen eine unbemerkte, ausgestopfte Krähe auf einem Laternenpfahl sitzen sieht, ist im Hintergrund eine Auslage zu sehen, in der große Verkehrsschilder mit Ausrufezeichen die Aufmerksamkeit der Passanten auf die besonderen Qualitäten von Nylonstrümpfen richten, welche auf eine Reihe von über dem Knie abgeschnittenen Plastikbeinen gezogen sind. Sieh da, eine absurde composition trouvée, die jedoch keinen der Passanten als solche berührt.
In zahlreichen Installationen von Bijl fühlen wir eine ähnliche Drolligkeit, die durch die Abwesenheit menschlicher Betriebsamkeit sichtbar wird. Unter normalen Umständen werden wir ein Schild mit der Aufschrift "Warten Sie hier fünf Minuten und wenn dann niemand auftaucht, bitten Sie bei der Garderobe um Auskunft" jederzeit respektieren, weil wir voraussetzen, daß es irgendeinen Grund für dieses Vorgehen gibt. Wenn wir so einem Schild in einer Arbeit von Bijl begegnen, in der wir für die korrekte Behandlung eines peniblen, amtlichen Problems eben nicht vom guten Willen eines überall Schilder aufhängenden Angestellten oder Direktors abhängig sind, begreifen wir plötzlich, wie ergeben wir in der Regel diese Szenarien ausführen. Manchmal setzt Bijl noch einen drauf, und er installiert nicht nur ein Schild, daß uns verbietet zu zelten, sondern auch noch einige Zelte, so wie 1989 im Gemeindepark des Dorfes Bornem. Es wundert mich nicht, daß diese Installation innerhalb von einer Woche von der örtlichen Bevölkerung abgebrochen wurde.
Das Magische des "Tons" von Bijls Werk besteht darin, daß er Abstand und Humor entstehen läßt, ohne der Wirklichkeit etwas hinzuzufügen. Vielleicht hat er gerade das nach und nach selbst entdeckt: Je weniger er der Wirklichkeit hinzufügt, desto stärker kommt die Arbeit beim Zuschauer an. Lassen Sie uns die composition trouvée in Wien betrachten. Allein schon ihre schräge Symmetrie bringt mich zum Lachen. Es hat etwas Erlösendes. Es läßt fühlen, daß dieser ganze Zwang, die Absprachen und Regeln, dieser ganze schlechte Geschmack auf minimalen Tricks beruhen, die zu durchschauen jeder lernen kann. Um nicht von den köstlichen Pinguinen zu sprechen! Wer denkt, daß sie weithergeholt sind, den lade ich ein, sich einmal in einem Zoo seiner Wahl umzuschauen, wo das Ausstellen von echten Tieren permanent wechselt mit "in ihrer natürlichen Umgebung aufgestellten" Gips-, Zement-, Marmor-, rietgeflochtenen oder botanischen Tierskulpturen.
Eine verwandte Arbeit ist die mit kupfernen Namenschildern verzierte, metallene Fahrstuhltür, die in der eingeschossigen Privatwohnung eines Sammlers installiert wurde. Hier haben die Leere und der Unsinn massive Gestalt bekommen, ebenso wie in der Arbeit in der Eingangshalle einer Bank, wo eine Hotellobby gebaut wurde. Das Schöne an dieser Arbeit ist, daß der architektonischen Schrecknis und Prätention nicht widersprochen wird, sondern sie aufgefangen wird, genau wie ein Judoka Bewegung, Kraft und Gewicht seines Gegners nutzt. Die gezeigten Gegenstände oder Kompositionen werden auch nicht als notwendig häßlich empfunden. Sie haben jeweils eine visuelle und stilistische Dynamik, die Bijl soviel wie möglich zu ihrem Recht kommen zu lassen versucht. Vom kommerziellen oder pragmatischen Standpunkt aus sind die Form der metallenen Fahrstuhltür und der Hotellobby oder der Einrichtung der Firma Horizon Systems funktional und notwendig. Man fühlt zwar den Spott in diesen Installationen, jedoch keine Bitterkeit. Es sind kritische Arbeiten, aber vor allem in dem Sinne, daß sie distanzieren und mehrere Wahlmöglichkeiten zu suggerieren scheinen. Die Dinge scheinen weniger fest zu stehen. Man kann sie verschieben.


Zeigen ist versetzen

Zeigen ist eigentlich nichts Anderes als etwas zu versetzen und in das Blickfeld des Betrachters zu bringen. Fast alle großen Kunstwerke sind entstanden, indem etwas von seinem eigentlichen Ort versetzt, indem etwas Ungebräuchliches oder Ungewöhnliches getan wurde. Das ununterbrochene Bombardement von wechselnden Eindrücken und die Launenhaftigkeit unseres unruhigen Gehirns lassen uns nach Regelmaß verlangen, nach Wiederholung und wiedererkennbaren Formen. Innerhalb der Gewohnheiten sieht man gar nichts. Wir hören und sehen, was wir bereits kennen, und solange sich dort nichts verschiebt, leben wir in unserem Kopf. Künstler geben unserer Sehweise einen besonderen Dreh, woraus eine Art Moiré-Effekt entsteht.
Der englische Kritiker David Sylvester erzählt, daß Magritte einmal erläuterte, daß das Versetzen von Gegenständen des größten Effekt hat, wenn es sich um vertraute Gegenstände handelt. Je vertrauter die Gegenstände, die er miteinander kombinierte, zum Beispiel eine Giraffe und ein Weinglas, desto größer das Mysterium, das seine Bilder hervorriefen. Für Marcel Broodthaers war Magritte ein wichtiger Maler, weil er die Kunst von der "Ästhethik der Malerei" erlöst hatte. Er meinte damit, daß Magritte in erster Instanz Bilder machte, die, hätte er den formalen und materiellen Aspekten der Malerei alle Aufmerksamkeit gewidmet, weniger prägnant geworden wären. Der Maler Roy Lichtenstein, der in den sechziger Jahren mit Gemälden, die praktisch bloße Vergrößerungen von Bildchen aus real existierenden Comics waren, bekannt wurde, erklärte, daß es schwierig sei, nicht der Verführung nuancierender, "gehobener Malerei" zu verfallen. "Je näher mein Werk dem Original kommt", sagt er, "desto bedrohender und kritischer der Inhalt." "Eine der stärksten Seiten der Künstler aller Kunstrichtungen während der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts", schreibt Sylvester, "ist, daß sie begriffen haben, daß ihre Arbeiten umso besser werden, je weniger sie eingreifen." Sylvester sagt dies im Zusammenhang mit den Filmen von Andy Warhol, die augenscheinlich einfach registrierten, was die Schauspieler vor der Kamera machen wollten, und die ein stilistischer Minimalismus und eine Abwendung von "Expressivität" kennzeichnet.
Hundert Jahre zuvor hatte der französische Schriftsteller Gustave Flaubert in seinen Romanen "Madame Bovary" und "Bouvard et Pécuchet" etwas Ähnliches versucht: die Wirklichkeit so akkurat wie möglich zu beschreiben und von sich selbst so wenig wie möglich hinzuzufügen. Sind auch die Werke von Flaubert, Magritte und Warhol gekennzeichnet von einer Technik, aus der subjektive Gefühlsduselei, Meisterhand und Pinselführung scheinbar verschwunden waren, sieht man bei diesen Künstlern doch eine neue Farbe, einen neuen Ton oder eine neue Sprache entstehen, welche aus persönlichen, formalen Eigenheiten hervorgeht. Magritte versuchte das Mysterium dadurch hervorzurufen, daß er alltägliche Gegenstände gleichordnete, Warhol und später Broodthaers benutzen ein scheinbares Wiederholungsmuster, um Schauer durch ihre Bilder ziehen zu lassen (zum Beispiel in "Red Race Riot" oder Montagen wie "Ma Collection"), und Proust hat aufgezeigt, wie Flauberts sogenannter falscher Gebrauch des Imperfekt ein neues Weltbild oder Lebensgefühl übersetzte. "Flauberts Imperfekt", schreibt er, "der so neu ist in der Literatur, verändert die Sicht der Dinge und Wesen vollkommen, wie eine Lampe, die an einer neuen Stelle steht, wie die Ankunft in einem neuen Haus oder wie der Anblick unseres alten Hauses, wenn der Umzug es fast geleert hat." "Die Dinge haben (bei Flaubert) genau wie die Menschen eine eigene Existenz", schreibt Proust weiter, "denn es sind nachgestellte Begründungen, die jedem visuellen Phänomen externe Ursachen zuschreiben, die in unserem ersten Eindruck nicht beschlossen lagen." Bouvard und Pécuchet sind Kopisten. Ihre problematischen Abenteuer beginnen, als sie aufhören zu kopieren und ein erfinderisches und kreatives Leben führen wollen. Flaubert umschrieb seine eigene literarische Arbeit immer wieder als "das Liefern von Kopien".
Bijl zeigt uns Teile unserer Wirklichkeit, indem er sie an einem unerwarteten Ort kopiert oder rekonstruiert oder indem er einer ansonsten alltäglichen Umgebung etwas Unerwartetes oder Inkongruentes hinzufügt. Wenn wir uns nicht angesprochen fühlen, zum Beispiel weil wir selbst keine Fitneßfanatiker sind, finden wir sein Werk sehr lustig, aber manchmal fühlen wir uns durch sie auch unbehaglich, weil wir uns in unserem Befolgen der exotischsten und schrägsten Konventionen ertappt wissen. Die besten Beispiele sind hier natürlich die Arbeiten zum Kulturtourismus.


Kulturtourismus

Der Tourist nimmt nicht selbst am Geschehen teil, das er beobachtet. Er oder sie macht keine wirklichen Erfahrungen. Alle Installationen von Bijl scheinen zu suggerieren, daß wir in einer Welt leben, in der Erfahrung unmöglich ist, weil unser Blick an polierten Dekors abprallt. Dieses Gefühl wird durch die Abwesenheit von Arbeitnehmern oder anderen Menschen, die zu dem Dekor gehören, noch verstärkt.
Ende der siebziger Jahre erdachte Bijl eine Reihe von Projekten, die er "Behandlungen" oder "Treatments" nannte. Diese Projekte kamen nie zur Ausführung, stellen aber die Basis seines späteren Werkes dar. Eine dieser "Behandlungen" war das "Army Treatment" oder "Armeebehandlung", dessen Grundentwurf in dem umfangreichen, vom belgischen Herausgeber Kunst en projecten veröffentlichten Buch über das Werk von Guillaume Bijl abgedruckt wurde. Bijl wollte die aufeinanderfolgenden Räumlichkeiten eines größeren Raumes, z.B. eines Museums, speziell einrichten, jede sollte eine besondere Funktion in der "Armeebehandlung" haben. Der Museumsbesucher wäre in einem "registration room" empfangen worden, wo seine Identität kontrolliert und die Personalien notiert worden wären. Danach brächte das Personal (sorgfältig gekleidete und gut instruierte Schauspieler) die Besucher von Saal zu Saal, in denen sie hintereinander verschiedene "Behandlungen" bekämen, bis sie eine vollwertige Armeebehandlung einschließlich Exekution gehabt hätten. Der größte Nachteil dieser Projekte war die Notwendigkeit, mit Schauspielern zu arbeiten, wodurch sie einer Art von Performance oder alternativen Theatervorstellungen geähnelt hätten.
Letztens habe ich im Fernsehen gesehen, wie Sicherheitsberater-Rambos mit wahrheitsgetreuen Simulationen Bankangestellten, Restaurantpersonal und Verkäufern beibringen, wie sie sich bei einem Überfall zu verhalten haben. Zu diesem Zwecke hatten sie in einer großen Scheune eine Bankfiliale, eine Snackbar und ein Dessousgeschäft nachgebaut. Einer der breitschultrigen Sicherheitsberater erklärte, daß die Kursteilnehmer für die Wirklichkeit bereit seien, sobald sie sich während des Trainings nicht mehr in die Hose machten.
Welcher Schauspieler hätte im Kunstmuseum ein "treatment" durchführen können, in dem er einen wissbegierigen Sammler oder einen anderen Kunstliebhaber zu unkontrolliertem Stuhlgang nötigt oder ihn standrechtlich exekutiert? Bijls Behandlungen wären immer nur "so als ob" gewesen. Der Einsatz von Schauspielern hätte dem Wahrheitsgehalt seiner Installationen Abbruch getan. Deshalb findet man heute in seinen Arbeiten oft ein Schild mit einer Aufschrift, aus der hervorgeht, daß die eigentlichen Aktivitäten des Reisebüros oder des Aufnahmestudios außerhalb der Öffnungszeiten des Museums oder der Galerie, wo sich die Installation befindet, stattfinden.
Auf den ersten Blick scheinen von den ursprünglichen "treatments" nur die Dekors erhalten zu sein, aber meiner Meinung nach reicht Bijls Arbeit weiter als die Ursprungsidee, aus der sie hervorgegangen sind. Anstatt der Inszenierung und Nachahmung einer Behandlung wurde versucht, die Behandlung "sichtbar zu machen", indem das Selbstverständliche ihrer Attribute so wahrhaftig und ungeschmückt wie möglich dargestellt wird.
Vielleicht kann man es mit dem Gebrauch von Schildern bei Marcel Broodthaers vergleichen, von Aufschriften wie "Défense d'entrer" (Zutritt verboten), "Au-delá de cette limite les billets ne sont plus valables" (Hinter der Absperrung sind Eintrittskarten ungültig), "Propriété privé" (Privatgrundstück), "Enfants non admis" (Kindern ist der Zugang verboten), "Vestiaire" (Garderobe), "Direction" (Direktion) usw. Diese Schilder geben sich als archäologische Überreste aus, sie zeugen von verschwundenen oder unsichtbar gewordenen, absurden Gewohnheiten wie die Abgabe von umfangreicher oder warmer Kleidung beim Betreten eines Kunsttempels oder das Verbot des Betretens eines Grundstückes, das nur einer Person gehört. So wie die Schilder und Aufschriften bei Broodthaers auf abwesende Räume und Rituale verweisen, so sprechen Bijls Installationen von den Erwartungen und Gewohnheiten der abwesenden Menschen. Durch das Weglassen oder Wegnehmen der Beteiligten läßt er uns sehen, womit sie sich eigentlich beschäftigen. "Ein Schatten Malarmés, den ich nicht verstanden habe, bin ich Tourist", schreibt Broodthaers, "das Licht der Stadt berührt mich in schönen Bildern. Schließlich bin ich ins Bett gekrochen, wo ich schlafe, schwarz-weiß. Ich mache Kino als Zuschauer." Ein Tourist schaut. Ein Tourist will immer irgendwo anders sein, weil er nie irgendwo ist. In der unverstandenen Wirklichkeit erkennt er bloß, was er schon weiß. Er sieht nicht mehr als sein eigenens Spiegelbild.
Beinah niemand weiß, wie Wind entsteht, wie ein Fernseher funktioniert oder wie Zugvögel es schaffen, sich sie zu orientieren. Wir leben als Touristen in Kulissen, die andere für uns vorbereitet haben. Deshalb war die Entscheidung Bijls, seine "Behandlungen" ohne Schauspieler fortzuführen, richtig. Wir sind selbst Schauspieler, die immer wieder dieselben Texte sprechen und dieselben Bewegungen ausführen. Wir brauchen keine Behörde, keinen Staat, um uns zu "behandeln", das machen wir selbst. Und das bemerken wir z. B. dann, wenn wir als Zuschauer in den verwunderlichen Kulissen unseres eigenen Kulturtourismus herumlaufen. Es ist auffallend, daß beinahe niemand sich gerne und von Herzen in die möglichen Lösungen gängiger naturkundlicher oder technischer Probleme vertieft, aber daß sich fast jeder von religiösen Scheinerfahrungen angezogen fühlt, wie dem Besuch großer Sportveranstaltungen, dem Anschauen von Soaps oder dem oberflächlichen Bewundern der Ausführungen von Kunst und Technik. Als Zuschauer von Bijls Kunstwerken verhalten wir uns wie Touristen, weil wir nicht aktiv teilnehmen. Wie müssen wir uns dann fühlen, wenn diese Werke uns Orte zeigen, die speziell für die Befriedigung des Verlangens nach Kulturtourismus entworfen wurden? Bijl zeigte uns bereits folgende Installationen: eine Geschichte der Erotik, fünf historische Stühle, darunter die von Oscar Wilde und Alfred Hitchcock, das Zimmer, in dem ein Wiener Komponist die letzten Jahre seines Leben fristete und starb, das ausgegrabene Fragment einer römischen Heeresstraße, ein Kuriositätenkabinett, 235 wichtige und weniger wichtige Photos aus der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, den obengenannten Überblick zur Geschichte der Verkehrsmittel und die drei Installationen, die auch in Recklinghausen gezeigt werden: Der Stein aus dem All (eine didaktische Ausstellung über einen riesigen Meteoriten), Die Geschichte des prähistorischen Menschen (dargestellt in drei Schilderungen: Das Feuer, Der Kampf mit dem Bären und Wie macht man Höhlenmalerei) und Acht historische Lederhosen. Vor einigen Jahren las ich in einem Essay von Marc Holthof, daß die farbigen Karomuster der schottischen Kilts, an denen man scheinbar die verschiedenen Clans erkennen kann, auf dem komplett erdichteten Werk "Vestiarium Scotticum" beruhen, das im Jahre 1829 von den Gebrüdern Stuart veröffentlicht worden war, welche später Anspruch auf den englischen Trohn erhoben und als Betrüger entlarvt wurden. Bei einer Begegnung mit Marc Holthof habe ich ihm nur die eine Frage gestellt: War der Schottenrock wirklich eine romantische Erfindung oder hatte Holthof seine Entmystifizierung in wahrlich Borges'schem Stil erfunden? Er versicherte mir, daß die schottische Folklore tatsächlich auf den Erfindungen zweier Phantasten des neunzehnten Jahrhunderts basiere. Als ich dies Guillaume Bijl erzählte, hatte er Mühe, mir zu glauben - obwohl er selbst gerade völlig damit beschäftigt war, seine Ausstellung "Acht historische Lederhosen" vorzubereiten. Ich weiß selbst nicht, was ich glauben soll, aber in Anbetracht der Tatsache, daß beide Erklärungen fantastisch klingen und mein Bedürfnis nach Kulturtourismus mehr als befriedigen, räkle ich mich im feigen Charme der Unentschlossenheit.


Montagne de Miel, 30. März 1998

 

1. Abb. in: Liliane Dewachter (Hrsg.), Guillaume Bijl, MUHKA, Antwerpen, 1996, S. 87
2. David Sylvester, About Modern Art, London, 1996, S. 208
3. Catherine David und Véronique Dabin (Hg.), Marcel Broodthaers, Galerie nationale du Jeu de Paume, Paris, 1991, S. 52
4. Zitiert nach Lucy Lippard: Pop Art, New York, 1996, S. 90
5. David Silvester: About Modern Art, London, 1996, S.387
6. Marcel Proust: Sur Baudelaire, Flaubert et Morand, Editions complexe, Brüssel, 1987, S. 70
6. Ibid, S. 68 8. Kunst en projecten (Hg.): Guillaume Bijl, Zedelgem, 1991, S. 31
9. Marc Holthof: De kleren van de prins-gemaal. Over kilt en internet, In: De digitale badplaats, Halewyck, Löwen, 1995