Hans Theys ist Philosoph und Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts. Er schrieb und gestaltete fünzig Bücher über zeitgenössische Kunst und veröffentlichte zahlreiche Aufsätze, Interviews und Rezensionen in Büchern, Katalogen und Zeitschriften. 

Diese Plattform wurde von Evi Bert (M HKA : Centrum Kunstarchieven Vlaanderen) in Zusammenarbeit mit der Royal Academy of Fine Arts Antwerpen (Forschungsgruppe ArchiVolt), M HKA, Antwerpen und Koen Van der Auwera entwickelt. Vielen Dank an Fuchs von Neustadt, Idris Sevenans (HOR) und Marc Ruyters (Hart Magazine).

ESSAYS, INTERVIEWS & REVIEWS

Stefan Dreher - 2005 - Tout sur Angie [FR, interview]
, 6 p.




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Hans Theys


Alles über Angie
Ein Gespräch mit Stefan Dreher



Angie ist eine Choreographie über Libido, Verführung und Wiedergeburt. Es geht um saubermachen, schwimmen, fallen, bellen, Haarknäuel aushusten, in den Ohnmacht fallen, am Daumen lutschen, Männer hauen, Tauziehen, das Gleichgewicht verlieren, gehen lernen, Fliegen in die Augen bekommen, ein gebrochenes Herz haben, weil man ganz allein ist, Männer tragende Frauen, vergessen, altern, einen großen Pimmel haben, verlieren, Frauen hauen, Männer essen, sich lieben, gebären, gackern, Aliens, Scheiße und Schlangen.
Die Choreographie nennt sich “An instant comedy evolving in episodes”, weil sie eine Sammlung sehr präziser, meist komischer Themen und Bewegungen in eine fortlaufende Kette von Improvisationen einflicht, die wiederum beständig von den Tänzern aufgenommen, gespiegelt und kommentiert werden. Jede Episode ist selbständig und anders, bezieht sich auf die vorangegangene und stellt die folgende vor. Die ersten vier Episoden wurden im Februar 2005 in den Hallen von Schaerbeek gezeigt.
          Es ist eine Choreographie voll Energie, Humor, fröhlicher Wiederholung und nötiger Abwechslung.


Gespräch

Dreher: Wenn Menschen sich ganz selbst genügen würden, bewegten sie sich wahrscheinlich nicht mehr. Ich würde es bestimmt nicht. Deshalb glaube ich, daß der Ursprung von meinem Tanzen Ungenügen ist. Wir versuchen, ganz zu werden und jemanden außerhalb von uns selbst zu finden und zu verführen. Tanzen ist der Versuch, sichtbar zu werden und für jemanden da zu sein. Es handelt auch davon, sich selbst neu zu erfinden und jeden Augenblick da zu sein. Zu versuchen Schemata zu folgen, aber gleichzeitig die Bewegungsmuster zu stören. Das sind Gründe, warum ich denke, daß diese Choreographie von Wiedergeburt handelt.

- Wir versuchen, uns durch Nachahmung zu perfektionieren, aber das Ziel ist schließlich anders zu sein?

Dreher: ”Station to Station”, meine vorangegangene Choreographie, handelte vom Lernen. Jemand begann mit einer Bewegung und die anderen Tänzer machen sie nach. Je mehr sie versuchten, die Bewegung ganz genau nachzuahmen, desto sichtbarer wurden die Unterschiede in ihren Körpern. Einige Bewegungen waren so schwierig, daß sie niemand wirklich nachahmen konnte. Das hat mich nicht gestört, denn oft ist eine so genannt schlecht ausgeführte Bewegung schöner als eine gut ausgeführte. Das interessante auf der Bühne ist das Versagen. Auf der Bühne brauchst du kein Held oder Genie zu sein. Auf der Bühne ist der Verlierer ein Gewinner. Dies trifft sicher für Schauspieler und Clowns zu, ist aber auch für Tänzer wahr. Die ungeschliffene Bewegung ist faszinierender als die bekannte, voraussehbare.

- Du gebrauchst manchmal das Bild von unbeholfenen, tanzenden Vögeln.

Dreher: Ja, ich habe einmal eine Dokumentation über balzende Vögel gesehen und war erstaunt darüber. Ich mochte es sehr und verwende es gerne als ein Bild für die Arbeit. Vögel balzen, um Partner anzulocken. Das erste, was mich erstaunt, ist ihr Bewußtsein, betrachtet zu werden. Instinktiv wissen sie, daß sie angesehen werden. Ohne jemanden, der zusieht, verliert das Ereignis seine Bedeutung. Zweitens bewegen sich die Vögel auf eine sehr elegante Weise, aber sie sind gleichzeitig extrem tolpatschig. Sie stolpern und fallen ständig. Sie tun dies mit großem Ernst, wodurch ihr Benehmen etwas sehr komödiantisches bekommt.
          Ich glaube jeder Tanz ist eine Art Balz. Im zeitgenössischen Tanz ist sie im Humor und der Sensibilität des Körpers zu finden. Aber auch in der Beziehung der Tänzer zum Publikum. Die Choreographie als Ganzes sollte eine Art Balz zum Publikum sein… Wenn meine Tochter Fanny tanzt, ist sie sich keines Bewegungskonzepts, wohl aber der Tatsache bewußt, daß sie betrachtet wird. Zuerst schaut sie, ob jemand zusieht und dann fängt sie an zu tanzen. Sie flirtet mit ihrem Papa, indem sie mit den Hüften wackelt. Da sie aber nicht wirklich weiß, was sie tut, ist ihr Tanz sehr lustig.

- Deine Choreographien und Improvisationen sind auch lustig anzusehen.

Dreher: Ja, es ist mir sehr ernst.

- Sie sind auch sehr berührend.

Dreher: Es freut mich sehr, daß du so denkst.

- Du scheinst eine Art fröhliche Mechanik von Bewegung, Lachen und Gefühlen zu praktizieren.

Dreher: Im Leben scheint alles Sinn zu machen. Ich würde gerne auch auf der Bühne Sinn machen, aber gleichzeitig weiß ich, daß das lächerlich ist. Genau wie die Vögel.

- Hast du eine ähnliche Zweideutigkeit erkannt, als Du die Schriften von Jung entdeckt hast?

Dreher: Genau. Sein Schreiben ist überwältigend. Gleichzeitig poetisch und wissenschaftlich. Man glaubt alles, was er schreibt. Zum Beispiel, wenn er schreibt, daß die Entdeckung der Möglichkeit durch das Reiben eines Stocks ein Feuer zu entzünden ein Unfall war, der nichts mit dem Wunsch Feuer zu machen zu tun hatte. Ihm zufolge hat jemand ein Ritual erfunden, das darin bestand, ein Stück Holz zu reiben. Das Ziel des Rituals war es, einen Abstand zwischen dem jungen, reibenden Mann und der Familie entstehen zu lassen. Die Ähnlichkeit zwischen dem Reiben des Stocks und bestimmten sexuellen Bewegungen gab dem Ritual seine Kraft. Sagt Jung.

- Es ist schwierig sich sexuelle Bewegungen vorzustellen, die dem Reiben eines Holzstocks ähneln.

Dreher: Vielleicht, aber für meine Arbeit ist dies nicht der springende Punkt. Der Punkt ist, daß auch nur die entfernteste Ähnlichkeit mit einem sexuellen Akt einer Bewegung Poesie oder eine mythische Kraft geben kann.

- Wohingegen sexuelle Bewegungen in sich selbst natürlich nichts besonderes haben. Wir finden ähnliche Bewegungen überall in der Natur ohne irgend eine unterschwellige Bedeutung. Ich kann mir kaum vorstellen, daß uns das Pumpen unseres Herzens oder das Schwellen unserer Brust etwas zu sagen versuchen.

Dreher: (Lacht.) Die Beispiele von Jung sind sehr amüsant. Ich erinnere mich an einen Stamm, in dem die jungen Männer in der Nacht aufstanden, um im Kreis herum zu stolpern und ihre Speere in den Grund zu rammen. Ihre sexuelle Energie sublimierend, haben sie so zufällig den Ackerbau erfunden, sagt Jung.
           Ihm zufolge entspringen unsere kreative Energie und unsere Libido - beide sind für ihn identisch - aus der Teilung eines ersten, androgynen Wesens. Nach Jung können wir als Teil der Natur nur dann schöpferisch tätig sein, wenn wir ein Kind zeugen. Alle anderen scheinbar kreativen Handlungen sind Sublimation oder im schlechteren Fall Unterdrückung unserer kreativen Möglichkeit. Eine Sublimation ist ein erfolgreicher Umgang mit der kreativen Kraft (mit dem “nur” eine Frau oder “nur” ein Mann sein) zum Beispiel, wenn man sich um seine Kinder kümmert. Menschen, die mit Ihrer Libido nicht zurecht kommen, beginnen, eigenartige Dinge zu tun. Wie zum Beispiel obsessives Waschen. Das komische am Waschen ist, daß die repetitiven Bewegungen, die dabei entstehen, leicht einer sexuellen Bewegung ähneln. Es ist eine Art Reiben. Je mehr jemand seine Libido unterdrückt, um so deutlicher scheint sie sich zu offenbaren. Das obsessive Reinigen kann ein Ablehnen des Sexuellen sein und ist doch voll davon… Man kann seinen eigenen Körper säubern, aber man kann auch einen ganzen Raum sauber machen, all die kleinen Ecken und schmutzigen Orte…
          Jemand, der einen Raum sauber macht führt eine Art Tanz aus. Die Person nimmt die eigenartigsten Positionen ein, vornübergebeugt, kniend, auf ihrem Bauch oder Rücken liegend… Es ist eine schöne Choreographie, voller Energie, fröhlicher Wiederholung und nötiger Abwechslung…
          Vor und zurück, rauf und runter, rein und raus… Ich mochte die Idee, eine Choreographie mit ähnlichen Bewegungen zu machen…

- Du hast also Jungs Bilder als Ausgangspunkt für Deine Choreographie genommen?

Dreher: Ich habe mich gefragt, ob ich sie benutzen könnte, um den Aspekt der Balz in der Arbeit sichtbarer zu machen. Die Bilder müssen nicht absolut wahr sein. Sie sind einfach zum Ausprobieren da.

- In diesem Sinn ergibt sich auch eine Verbindung mit der allgemeinen Natur deiner Arbeit. Du suchst nach einem sensiblen Weg, Bewegungen in deine Arbeit einzuführen, die nicht wirklich Tanzbewegungen sind. Du möchtest auch nicht, daß die Tänzer etwas ausdrücken. Es scheint, daß jede Bewegung eine gute Bewegung sein kann.

Dreher: Ich liebe es, Leuten zuzusehen und ihre Bewegungen einzurahmen. Eine eingerahmte Bewegung ist immer schön. Ich möchte eine ähnliche Schönheit auf der Bühne schaffen. Ohne Schönheit, ohne einen Zuschauer, der berührt ist, ist eine Bewegung ziellos.

- Sehr oft beginnst du mit einer alltäglichen Geste, aber ihre Funktion oder Bedeutung fällt weg und so verändert sie sich in eine nackte Bewegung.

Dreher: Ja, ich mag perfekte “Tanzbewegungen” nicht so gerne, weil sie die Choreographie unecht machen. Ich möchte eine echte Bühnenpräsenz entwickeln. Ich wünsche, daß wir Tänzer wirklich da sind, daß wir uns jeden Augenblick neu erfinden. Jeder Moment kann eine Art Wiedergeburt sein. Wir müssen fähig sein, Bewegungen ohne vorangegangene Ideen zu schaffen. Jemand initiiert eine Bewegung und die anderen reagieren auf diese Bewegung. Wir versuchen, wirklich ganz da zu sein. Wir exekutieren keine Formen, wir befinden uns im hier und jetzt und versuchen, direkt zu reagieren. Unser Gehirn arbeitet natürlich noch, wir machen ständig Pläne und fassen Entscheidungen, aber wir halten uns nicht an den Plan. Sobald wir etwas automatisch tun, ändern wir den Weg. Die Richtungsänderung muss so schnell wie möglich sein.

- Einem Außenstehenden scheinen die Tänzer vergeßlich.

Dreher: Ja, wir scheinen ständig zu vergessen, was wir gerade getan haben. Aber gleichzeitig lassen wir die Anderen nicht aus den Augen, um zu entscheiden, wem wir folgen, auf welche Weise und wie wir neue Wege im Raum beschreiten. Das Ergebnis ist eine Art Pulsieren, wobei sich Gruppen bilden, die wieder zerfallen. Es entstehen Wellen von Bewegungen. Geometrische Formen. Alles scheint auseinander zu fallen und plötzlich ist etwas anderes da. Die Gruppe wird wie ein lebendiges Wesen. Alles bewegt sich auf diese Weise, durch Teilung und Verbindung, Expandieren und Zusammenziehen.

- Eines der Bilder, die du benutzt, ist ein Schwarm von Zugvögeln.

Dreher: Ja. Sie sehen sich nicht an, aber sie scheinen die Gegenwart der anderen zu spüren. Plötzlich wechselt einer von ihnen den Platz. Ein rascher und winziger Akzent, der die Form des ganzen Schwarms verändert.

- Am Anfang jeder Episode von Angie bekommen alle Tänzer ein Kartenset.

Dreher: Ja. Jede Karte steht für eine besondere Situation, einen Klang, eine Geste oder eine Bewegung wie z.B. in den Ohnmacht fallen, fallen, schwimmen, lachen, gackern und so weiter.

- Und am Anfang einer jeden Episode werden die Karten gemischt und neu verteilt.

Dreher: So ist es. Jede Episode ist anders. Ich versuche die Regelmäßigkeit vom Nachahmen und Wiederholung durch die freie Anwenden eines genauen Sets von Regeln zu ersetzen.

- Die zweite Episode hat mich an Stephen Leacock’s Vergleich zwischen einem Pferd und einem Fahrrad erinnert.

Dreher: Erzähl mal.

- Leacock beobachtet, daß sich die Steigbügel eines Pferdes nicht zu einer komfortablen, kreisförmigen Pedalbewegung eignen, aber er fügt hinzu, daß es eine außergewöhnliche Erfahrung ist, sich auf einem Pferd rollen zu lassen.

Dreher: (Lacht.) Das Bild vom Rollenlassen auf einem Pferd gefällt mir auch, weil es den Ortswechsel einer Bewegung (oder das Konzept einer Bewegung) beschreibt. Wir können nur eine begrenzte Anzahl von unterschiedlichen Bewegungen machen. So gesehen hat die Obsession von uns Tänzern und Choreographen, immer neue Bewegungen zu finden, etwas Belustigendes. Uns steht ein faszinierendes Set alltäglicher Bewegungen zu Verfügung, die selten auf der Bühne gebraucht werden, zum Beispiel Zähneputzen. Andererseits macht es keinen Sinn einfach nur den abstrakten Bühnenraum zu betreten und das Zähneputzen zu imitieren. Man muß die Bewegung verwenden, um etwas Neues damit zu erschaffen.

- Du versuchst die Tänzer tatsächlich in das hier und jetzt zu locken, indem du sie einlädst, auf die Improvisationen ihrer Kollegen direkt zu reagieren?

Dreher: Im besten Fall würden wir Tänzer so weit gebracht werden, daß wir notwendig beginnen uns ohne vorgreifende Ideen zu bewegen, eigentlich ganz ohne Idee, so daß Bewegungen entstehen, die nicht mehr von Gedanken über Tanz, Repräsentation oder Bedeutung begrenzt werden. Im Idealfall sollten wir gar nicht wissen, daß wir uns auf einem Pferd frei rollen lassen, oder was das bedeuten könnte… Das Publikum sollte es sehen oder spüren. Die Gefühle und Ideen kommen später, wie Projektionen auf einen kontinuierlichen und spiralförmigen Fluß von Bewegungen.

- Letzte Woche hast du mir erzählt, daß du einen wunderbaren Tag gehabt hast, mit verbundenen Augen zu tanzen. Warum hat es soviel Spaß gemacht?

Dreher: Mit verbundenen Augen tanzend habe ich mich plötzlich frei von jedem Blick gefühlt. Ich fühlte mich nicht mehr beurteilt, weder von Männern noch von Frauen.. Meine Stimme wurde tiefer. Es hat sich wie unbeschwerte Energie und Bewegung angefühlt… Und obendrein hatte ich das Gefühl, interessant zu sein. Ich dachte, daß ich lustig anzusehen war.

- Du hast mir auch erzählt, daß du die Choreographie immer weniger komponiert haben möchtest.

Dreher: Ja, das wäre wunderbar …Wie ein Schwarm von Zugvögeln …Oder eine Nebelwolke …


Montagne de Miel, 25 Februar 2005