ESSAYS, INTERVIEWS & REVIEWS
Berlinde De Bruyckere - 2008 - About Socles for the Night and about Soothing Circumstances [EN, essay]
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Hans Theys
Über Sockel für die Nacht
Ein Gespräch mit Berlinde De Bruyckere
Das folgende Gespräch enthält Verweise auf Aussagen des Künstlers Paul McCarthy. Es soll hierdurch nicht der Eindruck entstehen, dass McCarthy und sein Werk für Berlinde De Bruyckere von außerordentlicher Bedeutung sind. Es ist einfach eine Folge des Umstandes, dass er einige Tage vorher ihr Atelier besucht hat, wodurch einige seiner Bemerkungen ihr noch frisch im Gedächtnis waren. Normalerweise würde ich diese (Erörterungen aus unserem Gespräch weggelassen haben. Das von McCarthy gebrauchte und von De Bruyckere angeführte Bild des entleerten Körpers ist jedoch so sprechend, dass ich entschieden habe, das Gespräch in seinem authentischen Verlauf zu bewahren.
Ich bin im Atelier von Berlinde De Bruyckere. Sie beaufsichtigt einige Männer, die große, schwere Kisten mit Skulpturen in einen Frachter laden. Ich sehe mir einige kleine Abbildungen an, die an der Wand hängen: Lucretia von Lucas Cranach dem Älteren; ein Foto von Obdachlosen oder Leichen, die unter Decken liegen; The Garden von Paul McCarthy; die Kreuzabnahme von Rogier van der Weyden; ein Gefangener in einer Christus-artigen Haltung mit einer Kappe über dem Kopf; der im Gefängnis von Abu Ghraib gefoltert wurde; das Retabel von Grünewald; ein Foto vom Sohn der Künstlerin, wie er in jemandes Schoß liegt; und viele andere Bilder. Ich gehe um die Plastiken herum, die im Entstehen sind: eine Pieta, eine menschliche Gestalt, die sich in Äste auswächst und eine Figur mit zwei Rücken. Und dann trinken wir zusammen Kaffee.
- Wenn ich Deine neuesten Skulpturen betrachte – darunter „Schmerzensmann“ – fällt mir auf, dass Du als Malerin ans Werk gehst. Nicht nur bezogen auf einen kleinen Maßstab, wegen der Faktur der Oberfläche – die fleckig aus der Tiefe gefärbt wird – sondern auch bezogen auf den großen Maßstab, wegen ihrer Struktur. Die Skulpturen werden unterstützt durch metallene Skelette, die mit Hilfe von Trägerelementen in die Sockel verankert werden. Sie bestehen aus einer Art selbsttragender Schalen, die um diese Struktur angeordnet werden. Der Raum zwischen den Schalen und dem Gerippe wird dann anschließend ausgefüllt mit in Epoxid getränktem Kobaltgewebe. In einem gewissen Sinn können wir die Skulpturen betrachten als eine Art dicker Farbschicht, als ob Du sie mit einem riesigen Pinsel rund um einen abwesenden Träger aufgebracht hast.
Berlinde De Bruyckere: Ich bin als Malerin ausgebildet. Ich sehe mich auch nicht als Bildhauerin im traditionellen Sinn, da ich meine Figuren nicht aus einem Kern aufbaue oder durch das Abtragen von Material entstehen lasse. Ich arbeite von außen nach innen. Ich bin jemand, der Dinge zusammenbringt. Ich betrachte Bildhauerei als eine Art von Rückgewinnung: meine ersten Skulpturen waren Basreliefs, die aus gefundenen Stücken von Eisen und Holz bestanden, wo ich, indem ich sie zusammenbrachte, mir ein neues Bild machte. Indem ich einen Hocker und einen Stapel von Decken zusammenbrachte, habe ich eine neue Wirklichkeit, eine neue Bedeutung hervorgebracht. Mich faszinieren gebrauchte Gegenstände und Materialien. So habe ich z.B. einmal Rosen aus gebrauchtem Blei gemacht, das durch seine Verwitterung für meine Plastik geeignet war.
- Deine jüngsten Skulpturen entstanden durch das Zusammenfügen verschiedener Abgüsse von menschlichen und tierischen Körperteilen.
De Bruyckere: Ich bitte Modelle, eine spezielle Positur einzunehmen und dann machen wir Abgüsse von Körperteilen, die mir für diese Haltung wesentlich zu sein scheinen. Auf der Basis der Abgüsse mache ich eine Gussform von Silikon, die ich mit eingefärbtem Wachs einstreiche und so die Außenseite der Formteile erhalte.
- Sie kommen also wirklich als Resultat von Malerei zustande?
De Bruyckere: Ja. Für jede Skulptur kreieren wir eine Farbpalette, die aus Dutzenden von eingefärbten Wachsbrocken besteht. Je nachdem, welche Farbe ich brauche, schmelze ich eine Probe und streiche die Stelle ein. Der Effekt entsteht durch das Übereinanderstreichen einer Anzahl transparenter Schichten.
- Ein von außen nach innen schichtweise gemaltes Sandwich von Lasuren, dessen Resultat erst sichtbar wird, wenn man die Skulptur aus der Gussform nimmt.
De Bruyckere: Ja, ich kann nicht kontrollieren, wie diese letztlich aussehen wird. Annähernd natürlich schon. Wenn ich an einer bestimmten Stelle eine bestimmte Farbe durchschimmern lassen will, dann mache ich die Farbe ziemlich heiß, so dass sie durchschmilzt bis zum Grund.
- Und nachher kannst Du sie nicht mehr verändern, weil die äußerste Schicht die mikroskopische Form der Haut angenommen hat.
De Bruyckere: Ja, die Gussformen sind sehr detailliert.
- Deine jüngsten Skulpturen entstanden, indem verschiedene, hohle Abgüsse miteinander verbunden wurden. Erst heftest Du sie mit dicken Nadeln und Schnur aneinander und wenn die Form endgültig ist, verbindest Du sie miteinander. Durch ihre Färbung, aber auch durch die Bewegung der unterschiedlichen Teilstücke, wirken diese Figuren wie dreidimensionale Wiedergaben von manchen Figuren in Bildern von Francis Bacon.
De Bruyckere: Das wird öfter gesagt.
- Als David Sylvester 1975 Bacon fragte, was ihn so ansprach an Bildern von Gesichtern schreiender Menschen, antwortete er, dass es ihm vor allem um die technische Möglichkeit ging, ein dunkles Loch zu malen.
De Bruyckere: Du siehst das auch in Bernini’s Bild von der heiligen Ludovica. Ihre Exstase wird zur Form durch das Aufreißen ihres Mundes. Auch durch ihre Hand, aber vor allem durch den Mund.
- Der Mund ist die Stelle, an dem unsere Außenseite übergeht in eine dunkle, vorweltliche Innenseite, wohin das Licht noch nicht durchgedrungen ist. In deinen letzten Skulpturen treffen wir auch auf solche Löcher. Wenn wir uns die technisch bedingte Füllung wegdenken, sind deine Skulpturen hohl. An einigen Stellen lässt Du eine Öffnung. Das Loch scheint das eigentliche Innere zu werden, das allein dadurch sichtbar gemacht werden kann, eine Skulptur darum zu bauen. Für mich ist das aus zwei Gründen von Belang. Die Skulpturen scheinen dem Gefühl nach – durch ihre Funktion als Sockel für eine Öffnung – aufzutreten als Vorhang der Nacht oder von etwas Unaussprechlichem. Auf einer strukturellen Ebene bieten sie jedoch – und das finde ich wichtig – eine Reflektion über das, was es bedeutet, eine Skulptur zu machen.
De Bruyckere: Das Hohlsein ist mir sehr wichtig. Nicht allein das Hohlsein der Figur, sondern auch das eines Körpers. Vor einigen Tagen, als Paul McCarthy hier zu Besuch war, hatten wir ein schönes Gespräch. Auch, wenn unsere Werke in unterschiedliche Richtungen gehen, gehen wir wohl doch von denselben Notwendigkeiten aus, von denselben Ängsten und Nöten. „Je mehr Du den Körper entleeren kannst durch Erbrechen, Bluten, Pinkeln, Schwitzen, Heulen oder Ejakulieren, desto freier kann er sein“, sagte er zu mir.
- Sollte man demnach seine Filme als Aufzeichnung davon betrachten können, wie eine tote Skulptur aus einem lebendigen Körper entsteht, gerade so wie in seinem Werk nebeneinander mehr oder minder geglättete Versionen derselben Gestalt von Skulpturen bestehen, die eine Art Vergeistigung von Skulptur anzeigen? Er hält ebensoviel von einem Entwurf wie von einem vollendeten Resultat und er stellt gerne die verschiedenen Stadien dicht nebeneinander als verschiedene Stufen in der Realwerdung von Phantasie oder der Poetisierung der Wirklichkeit…
De Bruyckere: Er fand, ich solle meine Skulpturen in ihrem unabgeschlossenen Zustand ausstellen, mit den noch sichtbaren Narben.
- Im Moment arbeitest Du an einer Skulptur, die an einen sich nach vorn beugenden Körper mit seitlich herabhängenden Armen denken lässt, die überzugehen scheinen in Zweige, Prothesen, Insektenbeine. Am rechten Knöchel erkennen wir auch einen bloßliegenden Knochen, der ein nach innen wachsender Baum sein könnte.
De Bruyckere: Es scheint, als ob sein Leib durch einen Parasiten herunter gezogen würde. Zufällig fand ich vor kurzem eine Zeichnung von mir von 1997, auf der eine ähnliche parasitäre Form eine Person zu kontrollieren scheint.
- Auf der Zeichnung sehen wir eine menschliche Figur, die von leicht angebrachten, roten Verstreifungen durchzogen ist, die selbst Querstreifen tragen wie eine Narbe. In deinen unvollendeten Skulpturen, bei denen die verschiedenen Teile durch Klammern, starke Stecknadeln oder Fäden zusammengehalten werden, sind diese Narben wieder zu finden.
De Bruyckere: Wie ich schon gesagt habe, findet Paul McCarthy, dass ich die Narben in der endgültigen Fassung bewahren sollte, aber für mich würden sie die Aufmerksamkeit vom Eigentlichen ablenken. Ich möchte alles Überflüssige vermeiden. Die Nadeln oder die Fäden zu belassen, wodurch das Bild einer Wunde oder Narbe hervorgerufen würde, garantiert einen auf der Hand liegenden Erfolg, aber für mich sind sie überflüssig… Es gibt noch einen anderen Unterschied zwischen McCarthy und mir. Ich finde die Thematik meiner Werke sehr hart. Ein Leib, der sich in einen Baum oder Zweig verwandelt, ist meiner Ansicht nach nur erträglich durch eine bestimmte Form von Ästhetik… Darin kann man eine weitere, wesentlichere Übereinstimmung mit dem Werk von Bacon finden. Er zeigte seine Gemälde hinter Glas in schönen, manchmal vergoldeten Holzrahmen. Er baute so etwas wie ‚mildernde Umstände’ ein, um sein Thema zugänglich zu machen. Ich versuche dasselbe, indem ich Decken gebrauche, oder Sockel mit einer schönen Patina.
- In der Pietá, die sich hier befindet, erwachsen bei einer der beiden Figuren plötzlich zwei Rücken und bei einer anderen ist ein doppeltes Rückgrat zu sehen. Den aus Teilstücken zusammengefügten Charakter der Skulptur fühlbar werden zu lassen ist eine mehr skulpturale Vorgehensweise, als bloß die Nähte zu belassen. Denn schließlich geht es nicht um das Illustrative einer Idee, sondern darum, eine Erfahrung skulptural zu bewältigen… Du sagst, dass Euer beider Werk aus denselben Ängsten und Nöten heraus beginnt. Das finde ich weniger fesselnd als die Vorstellung, dass McCarthy auch mit Löchern, Öffnungen und Hohlräumen arbeitet. Eines seiner ersten Werke war ein Fenster, das er in seine fensterlose Studentenbude gemacht hat, später arbeitete er mit einer H-Form, die er von einer vierkantigen Leitung eines Aircondition-Systems abgenommen hat und nun macht er aufblasbare Blow-ups von existierenden Formen mit Löchern (z.B. von einer Figur von Henry Moore). Die Skulpturen erscheinen wie um diese Löcher herum aufgebaut. Seine Ausstellungen scheinen sich tatsächlich in unserem Körper oder in unserem Kopf abzuspielen, als seien sie nicht mehr als die schattenhafte Bevölkerung eines Hohlraumes. Ich sagte ihm, dass mich das an Prousts Umschreibung vom Traum als „das erleuchtete Eingeweide“ denken lässt. ‚Schönes Bild’, antwortete er ‚ich habe einmal eine Arbeit gemacht, die sich im Magen eines Eichhörnchens abspielte… ’
De Bruyckere: Den Raum mit The Garden hier im S.M.A.K., fand ich unerträglich.
- Warum?
De Bruyckere: Also erstmal hat man die Kulisse einer Art von Bonanza-ähnlicher Fernsehserie. Ich mag an sich diese Art von Umkehrung. Die Männer, die in der Fernsehserie Helden sind, lässt er hier in einen Baum und in den Boden ficken. Aber ich finde das schrecklich erbärmlich und peinlich. Man fühlt sich so unbehaglich… wie ein Voyeur… zu sehen wie der Vater den Baum fickt und der Sohn den Erdboden. Ein Baum ist für mich ein Symbol des Lebens, eine fantastische Bild . Ich fand es unerträglich, dazwischen herum gehen zu müssen, mit dem Geräusch des mechanischen Fickens. Und dann kam man in den Raum, wo zwei geschlechtslose wächserne Puppen auf einem Tisch liegen… Die Puppen waren vorher in The Garden verwendet worden, sie waren kaputt gefickt… Wirklich ein peinliches Bild…
- Ihr verwendet beide viel Aufmerksamkeit auf die Sockel. Er hat z.B. einen aufwendigen Sockel gemacht, indem er einfache Tische mit Klebeband zusammengefügt hat. Auch Deine Sockel sind wunderbar. Ich mag beispielsweise besonders gern den hier aufgebauten doppelten Bildhauersockel: zwei große, tragbare Modelliertische, die Du übereinander gestellt hast.
De Bruyckere: Ja, ich habe mein Leben lang schöne Dinge gesammelt, nach und nach habe ich begonnen, sie als Sockel zu benutzen.
- In ‚Schmerzensmann V’ wirkt die Eisensäule im Vergleich zu der Figur aus Wachs ziemlich massiv.
De Bruyckere: Es gibt fünf dieser Skulpturen. Sie wurden für zwei Ausstellungsräume mit einem Mezzaningeschoß gemacht. Ich wollte Skulpturen machen, die sowohl vom unteren Geschoß als auch von Mezzanin aus gut aussehen. Die Pfeiler mussten so stark sein, um auf traditionelle Säulen zu verweisen, auf denen die Standbilder von Helden aufgestellt werden. Sie stammen aus einem alten, verfallenen Bahnhof. Solche mitgenommenen, verrosteten Pfeiler, die Träger eines völlig deformierten, gequälten Leibes sind, haben nichts mehr zu tun mit der Heldenhaftigkeit traditioneller Skulpturen.
- Der Held ist von der Säule gesackt?
De Bruyckere: Ja. Eine der beiden Ausstellungen hat in London stattgefunden und ich dachte ständig an die Nelson-Säule.
- Kannst Du noch ein Beispiel von einer Skulptur nennen, die durch einen Sockel inspiriert wurde?
De Bruyckere: Die Pietá, die Du hier siehst, ist ursprünglich für die Aufstellung in einer Nische entstanden. Doch schließlich habe ich die Nische weglassen müssen. Es ging nicht.
- Wurde die Nische zu wichtig? Bekam dadurch die Skulptur einen zu offiziellen Status?
De Bruyckere: Ja… Erst haben wir eine weibliche Figur gemacht. Danach haben wir versucht, ihr eine Figur auf den Schoß zu setzen. Das sah nicht aus. Zuletzt kam die zweite Figur neben sie zu sitzen. Aber das funktionierte nicht in der Nische. Sobald ich die Figuren aus der Nische herausgenommen und auf einen anderen Sockel gestellt hatte, dann aber daran gegangen bin, mich mit der Rückseite zu beschäftigen, ist der gespaltene Rücken entstanden, als ob also die zweite Figur sich verdoppelt, um die erste umfassen zu können. Es war auch zu sehen, dass drei Beine ausreichend waren. Schließlich habe ich aus der ersten Figur einen Mann gemacht. Vor allem die Frauenbrust störte. Ich bin sehr zufrieden mit der Rückseite. Die Rücken sehen aus wie zwei zerdrückte Papiertüten. Eigentlich ist die Plastik stetig weniger figurativ geworden, so dass immer weniger Nebensächliches blieb, was die Aufmerksamkeit davon ablenkt, was ich herüber bringen will. Für mich handelt es sich bei der Skulptur um zwei Menschen, die beieinander Trost suchen, nicht um Männer oder Frauen.
- Darum haben die Figuren auch kein Gesicht, so wie die Pferde. Eines der Dinge, die ich stark finde an deinen Pferdeskulpturen ist, dass sie nicht abstoßend werden, obwohl ihnen knallhart das Gesicht fehlt.
De Bruyckere: Die Pferdekörper sind abgenommen von Abgüssen von toten Pferden. Die Köpfe der toten Tiere sind zu schrecklich anzusehen. Die will ich nicht zeigen. Bei den menschlichen Figuren fehlen die Gesichter, weil ich vermeiden möchte, dass die Besucher bloß noch nach dem Gesicht sehen und den Rest der Figur als beiläufig betrachten. Ich will, dass meine Skulpturen mit dem Betrachter einen Dialog aus ihrem vollständigen Sein heraus führen, nicht ausgehend von einem Gesicht. Ich finde, dass Gesichter Skulpturen zu zugänglich machen.
- Lass uns noch einmal über den ‚Schmerzensmann’ reden.
De Bruyckere: Ich habe Dir ja gesagt, dass die Schmerzensmänner entstanden sind als Skulpturen für hohe Ausstellungsräume mit einem Mezzanin. Der eigentliche Arbeitsprozess war eine eindrückliche Erfahrung. Weil die Schmerzensmänner sich so hoch an einem Pfeiler befinden, sind sie größer als lebensgroß. Ihre Körper sind aus Abgüssen von Pferdekörpern zusammengestellt. Das Zusammenfügen war sehr schwer, sowohl physisch als auch emotional. Den ganzen Tag auf und ab mit einer Hebebühne. Und dann die großen Pferdekörper! Ab einem bestimmten Augenblick hast du das mit deinem kleinen Körper nicht mehr in der Hand, aber du musst trotzdem Herr der Lage bleiben, sowohl geistig als auch physisch… Ich liebe die Doppelsinnigkeit dieser Figuren. Für mich weisen sie hin auf die drei Gestalten vom Berg Golgotha. Schmerzensmann V ist der am meisten phallische. Auf der einen Seite ist er um den Pfahl herum gewachsen, auf der anderen Seite ist er offen, fraulicher. Aber vielleicht muss ich darauf nicht hinweisen. Ich möchte die Betrachter daran hindern, wenn sie versuchen, meinen Figuren selbst Bedeutung zu geben. Für mich ist es keine Erzählung, keine eindeutige Bedeutung. Es ist gut, wenn meine Skulpturen sich überlagern mit anderen Erlebnissen und wenn Menschen unerwartete Dinge darin entdecken. Wenn sie dann auch noch berührend sind oder Trost bringen, bin ich glücklich.
- Deine Skulpturen scheinen stets nackter zu werden. Sie bekommen etwas sehr Menschliches, durch das farbige Wachs, aber auch etwas Unmenschliches und Dunkles. Sie sind sehr hart. Nimmst Du das selbst auch so wahr?
De Bruyckere: Ja. Ich finde sie sehr hart.
- Du machst Dinge, die Dir widerstehen. Warum?
De Bruyckere: Ich entschließe mich dazu nicht bewusst, die Gestalten überkommen mich. Nicht nur, dass ich die unglaubliche Freiheit zu aquarellieren oder mit Wachs zu malen liebe, ich liebe auch die befriedigende Erfahrung, nicht völlig kontrollieren zu können, was sich einstellt. Es ist eine Beschränkung, zu wissen, was Du tust… Aber meine Figuren sind nicht nur hart. Ich möchte auch, dass sie eine Art von Trost oder Geborgenheit bieten. Jemand erzählte mir einmal, dass er in einer meiner Figuren Trost gefunden hat. Für mich ist das das schönste Kompliment. Ich versuche Skulpturen zu machen, die sowohl erschüttern als auch Trost spenden. Die Decken haben das auch an sich. Ein Gefühl von Wärme und Geborgenheit hervor zu rufen, aber auch denken zu lassen an Beklemmendes und Erstickendes.
- Wie bei der Skulptur mit der Figur, díe auf einer umgekehrten Zinkwanne steht? Wir sehen die Beine der Figur, aber Kopf und Oberkörper sind eingehüllt in Decken…
De Bruyckere: Bestimmte feministische Autorinnen sehen in der umgekehrten Waschwanne einen Appell an alle Hausfrauen, ein Ende mit ihrer so genannten Unterdrückung zu machen, aber das war natürlich nicht mein Anliegen. Ich halte nichts von zu bornierter Annäherung an den Feminismus. Und mein Werk hat keinen narrativen, illustrativen, anekdotischen Inhalt.
- Der Grund für diese Wanne ist, dass Du einen Sockel brauchtest.
De Bruyckere: Ja, natürlich.
- Du arbeitest zusammen mit einer Frau als Fotografin und einer Frau als Gestalterin. Gibt es dafür einen Grund?
Im Atelier arbeite ich auch mit drei Frauen zusammen: Nele, Annelies und Leen. Leen und Annelies sind 23. Nele ist 33. Ich bin 43. Ich finde es gut, mit Menschen zusammen zu arbeiten, die jünger sind als ich. Sie wissen andere Dinge und sie bemerken andere Dinge draußen, unterwegs. Als wir vor kurzem von Luzern zurückfuhren, hatte ich einen Halt in Colmar vorgesehen, um das Retabel von Grünewald anzusehen, das für mich eine große Quelle der Inspiration ist. Für eine meiner Mitarbeiterinnen war das Bild zu hart. Für mich bedeutet die Verschiedenheit in unseren Reaktionen eine Bereicherung… Aber zurück zu Deiner Frage über einen Grund, mit Frauen zusammen zu arbeiten… Wir hatten einmal einen jungen Mann als Mitarbeiter, aber das funktionierte nicht. Wir gehen ziemlich freimütig damit um, was wir tun. Wir sprechen mit den Figuren. Wir reden über uns selbst. Ich finde, dass wir den Figuren viel zu erzählen haben, so dass sie später ohne uns auskommen können. Aber der Mann empfand das als bedrängend. Er hatte es nicht leicht, weshalb wir uns fortwährend bremsen mussten. Du machst so einen großen Männerkörper und du machst deine Witze darüber. Aber mit einem Mann dabei geht das nicht. Er denkt sofort, dass du über ihn lachst.
- Was hältst Du von meinem Vorschlag, sich Deinen Figuren nicht von der Vorstellung des ihnen inne liegenden Themas oder der Gefühle her anzunähern, sondern von ihrer Form?
De Bruyckere: Das ist das erste Mal, dass ein Schriftsteller mein Werk betrachtet, ausgehend von den Arbeiten selber… Ich empfinde das als eine erfrischende Annäherung, die sehr gut zu der Art und Weise passt, wie die Werke zustande kommen, weil sie eigentlich immer eines aus dem anderen hervorgehen. Aus einer Figur entsteht eine andere… So kann man zum Beispiel die unterschiedlichen Gelegenheiten verfolgen, bei denen Decken in meinem Werk benutzt wurden und wie auf diese Weise neue Skulpturen entstanden.
1999 habe ich die Figur der Frau gemacht, die auf der umgekehrten Waschschüssel steht. Die Decken sind da zu einer zweiten Haut geworden, die wie eine Zwangsjacke um den Körper herum genäht ist. Die Figur ist kein Mädchen, sondern eine erwachsene Frau mit einem kurzen Rumpf. Aus dieser Figur ist eine andere hervor gegangen, die Zusammengenäht (Aanééngenaaid) heißt und die aus einzelnen Elementen zusammengesetzt ist: zerbrochene Gipsabgüsse von Gliedmaßen, die ich mit Wachs bestrichen habe, wie eine tropfende Kerze. Die alten, vergammelten Decken, die ich hierfür benutzt habe, haben kein Muster, weil ich wollte, dass sie der Textur von Haut so nah als möglich kommen.
Heute gebrauche ich die Decken jedoch auf eine neue Weise, z.B. um den Arm einer Figur zu unterstützen. Die Decke sorgt dafür, dass der Arm nicht auf dem rauen, hölzernen Sockel liegt… Vor einiger Zeit habe ich Arbeiten mit sehr großen Vitrinenschränken gemacht. Hinter dem alten, schlierigen Glas nimmt man Skulpturen in der Form von Bäumen und Ästen wahr. Die Farbe der Bäume ist der menschlichen Haut angenähert, wodurch sie etwas Fragiles bekommen. Weil das Glas den Blick verzieht, stehen einige Türen offen, die dich auffordern hinein zu sehen. Ich will nicht, dass man sie als Bäume sieht, sondern vielmehr als fremde, verletzliche Wesen. Die Schränke haben unten eine Art vertieftes Fach, in das ich drei Deckenstapel gelegt habe. Es sieht aus, als ob sie die Wurzeln der Bäume beschützen und wärmen. Ich betrachte die Decken auch als ‚mildernde Umstände’, weil sie uns vielleicht in eine weniger harte Realität führen können.
Nach den Figuren mit den Decken habe ich begonnen mit Figuren, die langes Haar haben. Das Haar übernahm die Funktion der Decken. Veranlasst durch einen nicht von mir gewählten Titel für eine Gruppenausstellung, begannen Kritiker, diese Skulpturen mit Maria Magdalena zu vergleichen, aber das war absolut nicht ihre Bedeutung. Das Haar hat die skulpturale Funktion, das Gesicht und die Nacktheit zu bedecken, das ist alles…
Danach ist die hängende Figur entstanden. Während ich 2002 an ihr arbeitete, ist mir die Notwendigkeit bewusst geworden, alles Überflüssige wegzulassen… Ich wollte nur den hohlen Leib zeigen, den Körper, der nur noch – um es brutal zu sagen – eine Haut ist, aufgehängt an einem Haken. Die Stärke des Hakens hat die Funktion, das zu unterstreichen. Daraus sind natürlich die Schmerzensmänner hervorgegangen.
Ein anderes Beispiel ist die Entwicklung der gebrauchten Körperteile. San S., meine Figur, die auf dem Motiv des hl. Sebastian beruht, habe ich noch mit Abgüssen von Frauenbeinen gemacht. Bis dahin habe ich nur mit Abgüssen von Frauenkörpern gearbeitet, weil ich, beispielsweise, niemals Decken um einen Männerkörper hätte wickeln können. Ich hätte auch nicht einen Mann auf eine umgekehrte Waschwanne stellen können. Ich liebe Männer. Doch erst nach San S. fand ich, dass es mir möglich sein könnte mit Abgüssen von Männerkörpern zu arbeiten… So entwickelt sich mein Werk immer weiter…
- Du hast gesagt, dass die Decken und das lange Haar u.a. die Funktion hatten, die Gesichter zu verbergen, weil Du meinst, dass Gesichter die Aufmerksamkeit ablenken von der Totalität des Werkes…
De Bruyckere: In gewissem Sinn ist das auch der Ursprung des Loches in der Pieta: es bezeichnet die Stelle, wo normalerweise der Kopf gesessen hätte. Das Loch ist funktional, weil ich keine Skulptur machen will, die das Bild eines abgeschnittenen Kopfes hervorruft. Ich habe noch keine plastische Lösung gefunden für einen Menschenkopf ohne Gesicht. Doch das wird irgendwann einmal kommen müssen, ich kann es nicht fortwährend aufschieben.
- Daher die Bilder von Judith und Salomé mit ihren jeweiligen Trophäen an der Wand?
De Bruyckere: Ich versuche, ob ich vielleicht nur aus sich selbst bestehende Köpfe machen könnte.
- Ich würde gern noch einmal zurückkehren auf mein Steckenpferd. Natürlich entstehen die Löcher in Deinen Skulpturen durch den Werkprozess (mit einer Hülle von zusammengenähten Abgüssen und nach Skulpturen ohne Gesicht suchend), aber könnte es nicht sein, dass Deine Art zu arbeiten unbewusst z.B. einer Ahnung folgt, dass schwarze Löcher einen Teil unserer Wirklichkeit bilden? Ich denke z.B. an den Held von Kafka’s ‚Der Prozeß’, der unter dem Laubwerk einer skulptural verzierten Kanzel eine schwarze Öffnung entdeckt, in die er kurz die Hand hineinsteckt, aber die Hand aus Angst schnell zurückzieht.
De Bruyckere: Ich bin sicher, dass es eine Art zu sehen und zu fühlen ist, die viel älter ist als meine bewusste Beschäftigung mit Zeichnungen und Bildwerken. Es geht um eine Erfahrung von Angst, die herrührt von etwas lange Vergangenem, aber die du nicht auf ein bestimmtes Bild zurückführen kannst… Eine Erfahrung, die mich sehr beeinflusst hat, ist meine erste Schwangerschaft, die ich in bestimmten Augenblicken als ein beängstigendes Abenteuer mit unbestimmtem Ausgang erfahren habe. Aanééngenaaid lässt an eine schwangere Frau denken, aber es könnte auch eine Person sein, in der ein Parasit haust… Bei dem Loch in der Pietá geht es für mich mehr um das Wissen von der völligen Leere, als um das Loch an sich…
- Der Maler Robert Devriendt erzählte mir einmal, dass er als Kind sah, wie eine Kuh für einen Kaiserschnitt Haut für Haut aufgeschnitten wurde. Es hat ihn als Kind schockiert zu sehen, dass die Kuh innen hohl und dunkel war. Ich glaube nicht, dass er dieser Erfahrung wegen Maler geworden ist, aber vielleicht dass er als Kind schon als der Künstler schaute, der er später geworden ist.
De Bruyckere: Das ist stark! Bei einem solchen Kaiserschnitt dabei zu sein, ist auch eines der dramatischen Erlebnisse in meiner Jugend gewesen! Ich wollte als Kind um jeden Preis die Geburt eines Kalbes miterleben und schließlich war ich dabei. Aber ich war nicht durch die klaffende Öffnung schockiert, sondern von all dem Blut… Ich wollte immer Tierärztin werden, aber nach dem Kaiserschnitt nicht mehr. Ich bin allerdings die Tochter eines Fleischers, ich sollte mit Blut gut umgehen können… In der Fleischerei meines Vaters habe ich faszinierende Bilder gesehen, die sicher Einfluss auf mich ausgeübt haben. Die Männer, die das Fleisch lieferten, trugen weiße Kittel, die rot von Blut waren. Von den Tiere war aller Ballast entfernt, der Kopf war nicht mehr dran und das Fell auch nicht. Es waren große, hohle, halbe Viecher…
- Ich wüsste nicht, was ich hier noch hinzufügen könnte…
De Bruyckere: Du hast nicht nur mein Werk, sondern auch die Macherin entbeint! (Lacht)
Montagne de Miel, 3. März 2008